Dr. jur. Ludwig Maximilian Eberstadt

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Ausführliche Biografie

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Foto: Archiv der Familie Eberstadt

 

Geboren am 5. Februar 1879 in Frankfurt am Main

Deportiert am 21. Februar 1945 in das Ghetto Theresienstadt

Ermordet in Theresienstadt

 
 

Herkunft

Die Wurzeln der Familie Eberstadt findet man in Worms. Ihre Geschichte begann am 12. November 1687, als Löw Eberstadt „Zum roten Löwen“ als Vater eines toten Kindes ohne Namen im sogenannten „Grünes Buch von Worms“ erwähnt wurde. Der ursprünglich als Märchensammler für Worms berühmte Gemeindeschreiber Juspa Schammes (gest. 1678) hatte es geführt. Er gehört auch zu einem der Vorfahren der später erwähnten Ester Gernsheim. Löw Eberstatt wurde 1689 mit der gesamten jüdischen Bevölkerung von französischen Truppen vertrieben, die Worms nach dem Sieg im pfälzischen Erbfolgekrieg eingenommen hatten. Am 20. Mai 1697 stirbt die namenlose Mutter der Kinder in der Emigration in Bockenheim und wird in Frankfurt auf dem Alten Friedhof Batonnstraße begraben. Kurz danach wird Löw Eberstadt als Beisasse in einer Bürgermeisterrechnung von Bockenheim gelistet. Im Jahre 1700 kehrt er mit seiner neuen Ehefrau, Mamel Kannstatt, (sie stammte aus einer Mainzer Ärztefamilie) zurück nach Worms, wo er sein Haus wieder aufbaut und 1709 stirbt. 

Das jüdische Worms versinkt im 18. Jahrhundert in die Bedeutungslosigkeit und kämpft sich erst im Zeitraum der französischen Besetzung, nach der Pariser Revolution, ab 1799 wieder hoch. Zwei der im 19. Jahrhundert zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung gelangenden Familien waren die Eberstadts und die Gernsheims.  

Der Urenkel von Löw Eberstadt wurde 1771 noch als Amschel Löb Eberstadt geboren und hieß später mit Vornamen August Ludwig. Er war Kaufmann, handelte mit Textilien und er soll einer derjenigen aus der Gemeinde gewesen sein, die das Tor zum Judenghetto von Worms eingerissen hatten. Aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung in der Gemeinde nahm er 1807 am Großen Sanhedrin in Paris teil.  August Ludwig Eberstadt heiratete 1800 Esther Gernsheim (1775-1819), die aus einer sehr alten Wormser Familie von Vieh- und Lederhändlern stammte.  Das Ehepaar hatte 11 Kinder und eines war der spätere Begründer des Frankfurter Zweigs der Familie Eberstadt. 

Abraham Eberstadt (1810-1891) und seine Ehefrau Betty Seligmann (1819-1905) verließen 1867 Worms, um sich mit den vier Kindern in Frankfurt niederzulassen. Dort betrieb Abraham eine Textiliengroßhandlung in der Schnurgasse 61, mit Webereien in Hof und Konradsreuth. Das Ehepaar hatte fünf Kinder, eines davon war Albert Eberstadt (1847-1931), der später Maria Katharina Edinger (1855-1918) aus Worms heiratete. Sie waren die Eltern des Ludwig Eberstadt.

Foto: Archiv der Familie Eberstadt

Familie EBERSTADT in Frankfurt:

Großeltern Abraham Eberstadt und Betty geb. Seligmann

mit den Kindern. 

oben:  Carl (1848-1912) – Albert – Louis (1849-1907)

unten: Luise (1857-1940 Gurs, verh. Lenel)

           und Emilie (1851-1937, verh. Lion)


Ein zu kurzes Leben

Ludwig Maximilian Eberstadt kam am 5. Februar 1879 in Frankfurt zur Welt, als erstes Kind seiner Eltern. Er hatte zwei Brüder, Franz (1885-1885) und Georg (1887-1963, verh. mit Edith Flersheim) sowie die Schwester Maria (1890-1967, verh. mit Hans Schaefer). Der Vater Albert Eberstadt führte mit seinem Bruder Carl (1848-1912) die Familienfirma A. Eberstadt in Frankfurt, bis zu deren Arisierung. Carl Eberstadt war mit der Schwester seiner Schwägerin Emma Adele Edinger (1855-1945) verheiratet.

Die vier Kinder der Familie wuchsen in großbürgerlichen, hochgebildeten Verhältnissen auf, mit familiären Verbindungen in große jüdische Familien Frankfurts und weit darüber hinaus. Ludwig besuchte als Kind das Dr. Hoch’sche Conservatorium, eine Volksschule mit musischer Ausrichtung und machte später das Abitur am Lessing-Gymnasium. 

Am 1. Mai 1897 meldete er sich von Frankfurt nach Heidelberg ab, um dort ein Studium aufzunehmen. Vielleicht wurde er krank, jedenfalls kehrte er am 15. August schon wieder zurück. Schließlich verließ er Frankfurt am 24. Oktober 1898, um sich in Berlin dem Studium der Juristerei zuzuwenden. Um die Erlaubnis für diese örtliche Veränderung zu erhalten, musste er in Worms, wo sein Vater - und damit auch er - immer noch heimatberechtigt war , beim dortigen Magistrat den Antrag auf Befreiung aus dem Heimatverband stellen, der am 9. März 1899 für den "Stud. Jur." erteilt wurde. 

Nach vier Semestern musste er nach Darmstadt zum Militär einrücken, um sein Freiwilligenjahr bei den Darmstädter Dragonern abzuleisten. Aus Gesundheitsgründen schied er jedoch bald wieder aus. Er konnte nun das Studium mit seiner Promotion zum Dr. jur. abschließen. Seine erste Stellung trat er in Frankfurt an und verließ am 13. Mai 1913 seine Heimat als „preußischer Staatsangehöriger“, um in „Cöln“ eine Stelle als Amtsgerichtsrat am Kölner Landgericht anzutreten.

Bald nach dem Umzug heiratete er dort, am 9. Februar 1915, Elisabeth „Lise“ Bielitz (1887-1972), Tochter des evangelischen Oberstleutnants Richard Bielitz. 1916 kam der Sohn Helmut (1916-1997) zur Welt und als zweites Kind Marielise (1919-2018). Die junge Familie wohnte in der Voigtelstraße 26 in Köln Braunsfeld, später in Köln Lindenthal,

Kölnische Zeitung vom 10.2.1915

Stadtwaldgürtel 67.  Es waren unruhige Zeiten mit dem Kriegsende 1918 und dem Übergang der Monarchie in eine umstrittene Demokratie. Auch hatten sie die Hyperinflation der mittleren 20er Jahre und die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts durchzustehen. Bei allen Widrigkeiten gab es aber auch glückliche Zeiten und sie pflegten die weltweiten Familienbeziehungen. Und dann kamen Hitler und der Nationalsozialismus.

Die Ernennung von Dr. Eberstadt zum Oberlandgerichtsrat stand bevor, da ereilte ihn der erste Schlag der nationalsozialistischen Judenverfolgung: Am 31. März 1933 wurde er im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Dienst entlassen. Kurz danach wurde Dr. Eberstadt wieder in seinen alten Stand zurückversetzt. Die offizielle Begründung war, dass er bereits während des Ersten Weltkriegs Staatsbeamter gewesen ist, was eines der zugelassenen Ausnahmekriterien für den Verbleib jüdischer Staatsangestellter in ihren Stellungen war. Allerdings wurde er auf den ziemlich unwichtigen Posten eines Grundbuchrichters relegiert. Die endgültige zwangsweise Entlassung erfolgte zum 31. Dezember 1935. Dr. Eberstadt war erst 55 Jahre alt. Fortan mussten die Eheleute mit dem um 30% niedrigeren Ruhegehalt eines Beamten zu Recht kommen. 

Ludwig und Lise Eberstadt lebten seit August 1935, gemäß den nationalsozialistischen „Rassegesetzen“, in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“, was zunächst einen gewissen Schutz vor den ärgsten Auswirkungen der Verfolgung bedeutete. Bei der Zurückdrängung und Verfolgung der Juden wurde unterschieden zwischen „Voll-, Halb-, und Vierteljuden“. Außerdem spielte der Begriff der „Mischehe” eine besondere Rolle, also, wie hier, der Ehe zwischen einem (wenn auch „nur” als solchen geborenen) „Volljuden” und einer „Arierin”. Bis 1943 waren derartige Ehen noch „privilegiert”; man wurde also bis dahin nicht von der vollen Härte der Judengesetze und -bestimmungen getroffen.  

Am 9. November 1938 brannte die Kölner Synagoge. Ab 1. Januar waren Juden in Deutschland mit dem groß eingestempelten roten „J“ im Pass gebrandmarkt (eine Erfindung der Schweizer Behörden!). Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg.  

Die staatlich gelenkte Verfolgung jüdischer Menschen in den nächsten Jahren, mit Entzug wichtiger Lebensgrundlagen, ließ die Eheleute zunehmend vereinsamen. Lises Vater konnte immer wieder seinen Einfluss aufgrund seiner hohen militärischen Position ausüben und das Schlimmste verhüten. Lises Bruder war Stabsapotheker bei der SA und konnte in dieser Stellung auch viel für die Familie erreichen.

Zum 21. April 1944 wurde aber das Ehepaar Eberstadt ins „Rassenpolitische Amt” bestellt, wo sie den nachfolgenden Revers zu unterschreiben hatten:

“Es erschienen die Eheleute Eberstadt. Es wurde ihnen aufgegeben, die Wohnung Köln Lindenthal, Stadtwaldgürtel 67, zu räumen und bei Mennigroth, Schmalbeinstr. 7, bis 26.2.44 einzuziehen. 

Von obigem haben wir Kenntnis genommen, gez. L. und ”E. Eberstadt”

Vermutlich war die genannte Wohnung gegenüber des Stadtwaldweihers Teil eines „Judenhauses”. Es war Praxis der Nazis, Juden in den Städten in gesonderten Häusern zu konzentrieren, sie damit von ihrer Umgebung zu isolieren, um sie schließlich mehr oder weniger unbemerkt abtransportieren und verschwinden lassen zu können. Die zugewiesene „Wohnung“ sollte aus einem Zimmer bestehen; Möbel aus der bisherigen 5-Zimmer-Wohnung konnten also nicht mitgenommen werden. Zunächst versuchte der Sohn Helmut, die Wohnung zu halten, was ihm nicht gelang. Später, so hieß es, Beamte der Gestapo aus Aachen hätten die Wohnung für sich reklamiert und die Möbel seien an Volksgenossen abgegeben worden. Einiges konnte noch bei Freunden und innerhalb der Familie verteilt werden, und heute noch hängen bei einem der Nachkommen die Gemälde aus Ludwigs und Elieses Wohnzimmer, welche die Urgroßeltern Eberstadt aus Worms zeigen, gemalt von dem renommierten Maler Johann Adam Schlesinger.

August Ludwig Eberstadt (1771-1839)

(Bild im Familienbesitz)

Esther Gernsheim (1775-1819)

signiert „Schlesinger pinxit 1817“

(Bild im Familienbesitz)

 

Ein Doppel dieser Gemälde in ovalen Rahmen hing in Köln bei Urenkeln aus der Familie Feldheim, die angesichts der angekündigten Deportation mit Gift aus dem Leben schieden. Diese Bilder sind verschollen. 2007 ist eines der Bilder im Kunsthandel aufgetaucht und wurde unbekannt versteigert.

Tochter Marielise war bereits 1940 nach München gezogen. Dorthin begaben sich nun (1944) auch die Eltern, weil sie um ihre Zukunft fürchteten. Im Gegensatz zu ihren „Mitbürgern” ahnten sie, was es bedeuten könnte, in die ihnen zugewiesene Wohnung zu ziehen: Deportation! Da Ludwig Eberstadt sich jedoch in München nicht sicher genug fühlte, fuhr er zurück in die Eifel zu Freunden, von denen er versteckt wurde. 

Aus dem gleichen Grund und zur gleichen Zeit meldete sich Sohn Helmut freiwillig zum „Westwall”. Er gehörte damit also zum letzten Aufgebot der Nazis gegen ihre Feinde. Hierbei ist bemerkenswert, dass im April 1940 sogenannte „Mischlinge 1. Grades“ aus der Reichswehr geworfen wurden. Jetzt aber brauchte man alle noch im Reich verfügbaren Männer, um im Westen einen Graben auszuheben, der für Panzer nicht durchfahrbar sein sollte (im Osten wurden zum gleichen Zweck auch Mädchen und Frauen eingesetzt). Die Amerikaner hatten im Herbst 1944 schon Aachen erreicht, und man konnte damit rechnen, dass Köln Weihnachten 1944 amerikanisch besetzt sein würde. Der Vormarsch wurde aber gestoppt.  

Das war sicherlich für Ludwig, dessen Nerven seit Jahren aufs Äußerste angespannt gewesen sein müssen, eine schwere Enttäuschung. Hinzu kam ja nun auch die Belastung, er könne seinen Freunden schaden, die ihn versteckt hielten. In einer Entnazifizierungsakte im Staatsarchiv NRW findet man den Revers eines Arztes aus Heimbach i.d. Eifel, dem zu Folge der (Name ist bekannt) sich „zur Verfügung gestellt hat, vorübergehend einen verfolgten Juden (Amtsgerichtsrat Dr. Eberstadt, Köln) bei sich aufzunehmen.“ 

Diese Umstände und seine Sehnsucht nach der Familie veranlassten ihn schließlich, die Eifel zu verlassen und nach München zurückzukehren. Immer in der Angst, als Jude identifiziert zu werden, benutzte er öffentliche Verkehrsmittel, um dorthin zu kommen. 

Im Januar 1945 hatte das „Reichssicherheitshauptamt“ beschlossen, nunmehr auch die jüdischen Partner aus „Mischehen“ „zum geschlossenen Arbeitseinsatz“ nach Theresienstadt zu deportieren. Die Situation wurde für ihn also lebensgefährlich. 

Ludwig Eberstadt erreichte schließlich seine Familie und am Samstag, dem 17. Februar 1945 klingelte in der Kattenstraße 4, in München Großhadern, die gefürchtete Geheime Staatspolizei. Tochter Marielise schreibt darüber zunächst kurz: 

„ ... [Vater] wurde trotz „privilegierter Mischehe" im Februar 1945 noch verhaftet (in meiner Gegenwart in München abgeholt, wo ich mit Mutter und Ursula [Tochter] lebte) und nach Theresienstadt gebracht. Kurz danach wäre alles vorbei gewesen! Helmut und ich empfingen die Rücktransporrte nach München, aber unser Vater fehlte als Einziger von diesen zuletzt noch Verschleppten."

In ausführlicher Darstellung stellen sich die Ereignisse wie folgt dar (Brief vom 11. Februar 1995):

“Durch Freunde von mir konnte ich damals in den Kriegsjahren in München (Großhadern) wohnen mit Mutter und Ursula. Mein Vater hielt sich an verschiedenen Orten versteckt, kam aber dann `notgedrungen` zu uns (wußte nicht mehr `wohin`). Das war natürlich gefährlich, weil wir Frauen (schon allein wegen der Lebensmittelkarten) polizeilich angemeldet waren. Er selber war in Köln verschwunden u. wurde gesucht.

Bei uns war er schnell zu finden. Leider, leider muß irgend jemand angegeben haben, daß Mutter u. ich in München lebten (viell. nur aus Dummheit erwähnt). So stand Mitte Febr. 45 -also gegen Ende des Krieges- die Gestapo bei mir vor der Tür, fragte nach ihm, Mutter versuchte zu leugnen, aber sie fanden ihn schnell. Er stand auf der Speichertreppe, hatte Ursula auf dem Arm!! Es hieß, er käme zum Arbeitseinsatz nach Köln, was nicht stimmte und ihn später auf dem Transport so sehr erregt hat.

Gleich nach der Verhaftung [am folgenden Montag, Anm. des Verf.] suchte ich unter Schwierigkeiten die Gestapo, fand die richtige Stelle, wurde verhört u. dann tatsächlich zu ihm in`s Gestapo-Gefängnis gelassen. Unter Bewachung wurden wir in einem kleinen Raum zusammengeführt. Man konnte nur Unbedeutendes reden ...

Mein Gang zurück über den großen Hof - ich spürte die Augen der Bewacher in meinem Rücken - wenn sie mich gerufen hätten u. auch behalten hätten ...  mir wurde erst später klar, wie gefährlich es war. Nie werde ich dieses alles vergessen, aber es war gegenseitig gut, sich noch einmal gesehen zu haben."

Eine Woche später, am Freitag den 22. Februar 1945, wurde ein Transport zusammengestellt. Es war der letzte Transport, der von München nach Theresienstadt abging. Durchgeführt wurde er mit Lastwagen [Hier kommt es zu einer nicht untypischen Veränderung in der Erinnerung der Berichterstatterin im Laufe der Zeit, wodurch - nicht eigentlich beabsichtigt - der Vorgang überhöht wird und die Dramatik noch zunimmt. Es war ein Personenwagen, der an einen regulären Zug angehängt worden ist, Anm. des Verf.]. 

Der Zug also verließ mit 31 Gefangenen in einem Personenwagen München mit Ziel Theresienstadt. Es war mit der Nr. 35 der letzte Deportationstransport von München. Ludwig Eberstadt war mit der Transport-Nr. 1415 noch als Letzter auf der Transportliste eingetragen worden. Ein kleiner Junge saß mit im Waggon: Ernst Grube, einer der heute so wichtigen Zeitzeugen der Geschehnisse. 

Auf dem Transport wird Ludwig Eberstadt bemerkt haben, dass es nicht nach Köln zum Arbeitseinsatz ging, wie behauptet worden war, um die Leute ruhig zu stimmen. Ob er während der Fahrt bereits wusste, wohin es stattdessen ging, sei dahingestellt. Ihn belastete die ständige Angst, nicht nur um seine eigene Person, sondern auch um seine Familie. Außerdem litt er unter enormen physischen Belastungen, verbunden mit völlig unzureichender Ernährung während der vergangenen Monate. Tief saß der Schock der Verhaftung und die Tage im Gefängnis in der Türkenstraße, gefolgt von der unheimlichen Fahrt bei eisiger Kälte, über eine Strecke von 400 Kilometern, für die man einen Tag Fahrtzeit benötigte. Man ließ den Zug damals direkt in die Festung hineinfahren, im Unterschied zu früheren Transporten, die am Bahnhof Bauschowitz (Bohuvice) endeten. Es folgte die übliche Aufnahmeprozedur mit einer „Entwesung“ wegen Läusebefall Einzelner. Das wissen wir aus dem Arbeitsbericht der Begleittruppe. 

 Kasematten im Westen der Hohenelber Kaserne, Große Festung Theresienstadt. (Foto C. Eberstadt 2011) 

Die Ankunft im Konzentrationslager Theresienstadt, wo die ebenfalls aus München deportierte Hermine Eberstadt, geborene Masbach, die Witwe des Cousins August Ludwig Eberstadt, zwei Jahre zuvor gestorben war (was ihm bekannt war); alles das war zu viel für ihn! Er erlitt einen Nervenzusammenbruch. Nicht zuletzt dazu beigetragen haben dürfte, der Anblick der im Lager zusammengepferchten Juden. Er hatte einst im Briefwechsel mit seinem Cousin Paul Eberstadt (Caracas) darüber diskutiert, dass es beiden eine äußerst unangenehme Vorstellung sei, mit vielen Juden zusammenleben zu müssen.  

Er wurde am 24. Februar in die „psychiatrische Abteilung“ des Krankenhauses „eingewiesen“. Es handelte sich nach vorliegender Augenzeugen-Aussage um Block E II (Kavalierkaserne), in dem man in den Zellen der Kasematten Alte und Geisteskranke unterzubringen pflegte. Der wahrlich schrecklichste aller denkbaren Orte.

Am 1. Mai 1945 waren die Amerikaner in München einmarschiert. Der Terror der Naziverbrecher war vorüber! Kurz danach kamen fast alle mit dem letzten Transport deportierten Münchner Juden aus Theresienstadt zurück. 

Nachdem der Vater nicht unter den Heimkehrern aus Theresienstadt war, machte sich Sohn Helmut aus Köln, mit seinem Freund Dieter Goyert, am 5. Juli dorthin auf. Sie besorgten sich ein Auto, einen Passierschein und Benzinmarken. Sie sprachen mit der Krankenschwester, welche Ludwig Eberstadt betreut hatte, und mit Menschen, die ihn dort gesehen hatten. Dieter Goyert schreibt über den Eindruck: 

„... Wir haben den Ort gesehen, in dem Dr. Eberstadt seine letzte Nacht verbracht hatte und ich habe Verständnis dafür, daß man solche Stätten nicht mit nüchternen Worten beschreiben kann. Da hilft, glaube ich, nur der Expressionismus, aber dann muß auch die “Antenne” stimmen.

Dr. Eberstadt soll sich am Sonntag Vormittag, dem 25. Februar 1945, vor dem “Allgemeinen Krankenhaus” in die Sonne gesetzt haben (dieses Krankenhaus war in einer Kasematte untergebracht, zum Teil ohne Fenster). Wahrscheinlich ist er “spazieren gegangen”. Er wird dabei eines der vielen vorhandenen Tabus aus Unkenntnis oder Verwirrtheit gebrochen haben und getötet worden sein. Alle Menschen in seiner Umgebung seien angewiesen worden, nach ihm zu suchen, ohne Ergebnis.

Marieliese meint, daß die Wachmannschaften ihn in die sog. “Kleine Festung” verbracht haben; ein Gebäude, aus dem keiner der Bewohner Theresienstadts jemals wieder herausgekommen sei (so Frido Mann in seinem Buch “Terezin oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt”). Da sei er dann wohl erschossen worden. Er war mit seinem Nervenzusammenbruch einfach lästig gewesen... ”

Ein in tschechischer Sprache verfasstes und in deutscher Übersetzung vorliegendes Dokument, das gleichzeitig als Reisepass für die Rückreise von Helmut Eberstadt und Dieter Goyert diente, gibt Aufschluss über die Ereignisse (gekürzte Fassung):

Terezin (Theresienstadt) , den 06.07.1945

Herr Helmut E b e r s t a d t  aus München, Katten Avenue 4, kam heute nach Theresienstadt, um seinen Vater, Herrn Dr. Ludwik Eberstadt, abzuholen.  

Dazu vermerken wir:

Dr. Ludwik Eberstadt wurde am 24.02.1945 im Konzentrationslager Theresienstadt eingeliefert und (unter Berücksichtigung seines seelischen Zustandes) in die psychiatrische Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses überführt. Aus dieser Abteilung verschwand er am 25. Februar 1945 und trotz aller Nachforschungen konnte sein Aufenthalt bis heute nicht gefunden werden.

Am 26.03.1945 soll er aus dem Stand des gewesenen Konzentrationslagers dem Befehl nach herausgenommen worden sein.

Herr Helmut Eberstadt kehrt mit dieser Nachricht in seine Heimat zurück (mit seinem eigenen Wagen IIA/46277).

                                                                   Gesundheitswesen

                                                            Dozent Dr. Richard Stein 

Selbstverwaltung des gewesenen Konzentrationslagers

Theresienstadt – Stadt                                               06.07.45

 Wir bitten, alle zuständigen Behörden dem genannten

                                                              Helmut E b e r s t a d t

bei seiner Rückkehr nach München mit eigenem Wagen behilflich zu sein

L.S.: Selbstverwaltung des gewesenen Konzentrationslagers

                            Theresienstadt - Stadt - Unterschrift

 

Als Kenner der Familiengeschichte kann ich mir folgendes Szenario vorstellen: der Gefangene hat bei der ersten sich ihm bietenden Gelegenheit versucht, Kontakt mit seiner ebenfalls aus München vertriebenen Kusine Anna Ansbacher, geb. Eberstadt aufzunehmen. Von ihr wusste er, dass sie seit 1942 in Theresienstadt gefangen gehalten wurde, und er kannte auch die Adresse „Badhausgasse“ 12, wo am 25. Dezember 1942 ihre ebenfalls aus München vertriebene Mutter Hermine Eberstadt, geborene Masbach, ein elendes Ende gefunden hat, auch von deren Tod wusste man in der Familie damals schon.

1942 BLOCK IV/Q312, später Badhausgasse“ 12, heute Palackeho 192

Das vierte Haus links ist Q312 (Foto C. Eberstadt 2011)

Im Original erhaltene Straßenbezeichnung der Parallelstraße. (Foto C. Eberstadt 2011)

Dort angekommen, hat man ihm dann wohl berichtet, dass Anna am 22. Februar 1945 mit dem Zug in die Schweiz ausgereist war. Man kann nicht ansatzweise nachfühlen, wie niederschmetternd diese Nachricht für ihn gewesen sein muss! Ich halte es für möglich, dass sich Ludwig Eberstadt in seiner Verzweiflung erst einmal versteckt hat und irgendwann danach in der Kälte des Februar 1945 erfroren ist. Man kann sich durchaus vorstellen, dass nach ein paar Tagen ein unbekannter Toter innerhalb der Festungsmauern aufgefunden wurde, dass der Leichnam vom „Leichenwagenkommando“ wegen der Seuchengefahr schnellstens (und ohne Dokumentation des Fundes) ins Krematorium geschafft und verbrannt, und dass schließlich die Asche in eines der anonymen Massenbegräbnisfelder des Theresienstädter Friedhofs geworfen worden ist.  

Nicht von der Hand zu weisen und genauso wahrscheinlich ist es, dass der Herumirrende in der Stadt entdeckt und erschossen wurde. Ich persönlich kann mir bei den gegebenen Umständen nicht vorstellen, dass es Ludwig Eberstadt gelungen sein kann, die Festungsanlagen unerkannt zu überwinden.

Wallanlagen der Festung (Foto C. Eberstadt 2011)

2022 kamen noch ein paar Details zum Vorfall ans Licht. Im Tschechischen Nationalarchiv, Bestand GNUP – General der nichtuniformierten Polizei, Karton 2 oder 3, findet sich der Fahndungsaufruf der Protektoratspolizei nach Ludwig Eberstadt. Mit anbei findet man die Beschreibung seiner letzten bekannten Bekleidung: Blaue Reithose, hellgraue Socken, grauer Mantel oder schwarzer Übermantel und grauer Hut. Zum Schluss die Anordnung: Bei der Festnahme sofort K IV./4 überstellen. [Meldeblatt-Datum: 9.3.1945] - (National Archives: www.nacr.cz/eng

Damit kann man wiederum nur Vermutungen anstellen: Das Blatt zur Fahndung wurde am 9. März erstellt. Das ist weit später, als das bisher bekannte Datum 25. Februar. Angesichts der seinerzeit von den Zeugen erfolgten Befragung des Krankenhauspersonals sollte man davon ausgehen, dass die Polizeifahndung im Chaos der Ereignisse mit Verspätung anlief. 

Wie auch immer: Unermesslich für Außenstehende ist die Lücke in der Biografie einer Familie, die das ungeklärte Verschwinden des Familienvaters reißt. 


 

Text und Recherche

  • Christof Eberstadt

Quellen

  • Eberstadt, Christof: Biografische Notizen zu Ludwig Maximilian Eberstadt, Erlangen 2024.

  • Eberstadt Familienarchiv u.a. basierend auf Unterlagen und Auskünften des Stadtarchiv Worms, dem Historischen Archiv der Stadt Köln, dem Bundesarchiv, dem Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt und Památnik Terezin (Gedenkstätte Theresienstadt).

Internet

Literatur

  • Strnad, Maximilian: Privileg Mischehe? Handlungsräume „Jüdisch-versippter“ Familien 1933-1945, Wallstein Verlag 2021, Seite 366.

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Paula Dreyer

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Heinz Eschen