Paula Dreyer
Geboren am 8. November 1876 in München
Gestorben am 27. November 1940 in München
Elternhaus, Kindheit und Jugend
Paula Lehmann kam am 8. November 1876 als Tochter von Isaak Lehmann (geboren am 7. März 1841) und seiner Frau Julie, geborene Bernheim (geboren am 15. November 1851), in München zur Welt. Ihr Vater besaß mit seinem Bruder Jakob Lehmann eine Großhandlung. Mit welchen Waren sie handelten, lässt sich nicht feststellen. Paula hatte einen älteren Bruder: Gustav war 13 Monate vor ihr zur Welt gekommen. Sie besuchte wahrscheinlich eine Höhere Töchterschule.
Hochzeit und Familiengründung
Vermutlich 1896 lernte Paula Lehmann den Orthopäden Arthur Dreyer kennen. Er war am 21. April 1870 in Bielefeld geboren worden und erst 1896 nach München gezogen. Arthur Dreyer war Oberarzt im neu erbauten Lazarett in der Lazarettstraße, dem heutigen Herzzentrum München-Neuhausen. Zusätzlich eröffnete er 1896 in der Karlstraße eine „Medico-mechanische Privatheilanstalt“ mit einem Genesungshaus für Unfallverletzte. Paula Lehmann und Arthur Dreyer heirateten am 16. Oktober 1898. Zwei Jahre später kam am 18. November 1900 ihre Tochter Mathilde zur Welt. Sie blieb das einzige Kind. 1915 zog die Familie von der Augustenstraße 14 in die Nymphenburger Straße 20.
Mathilde und Sally Grünebaum
Mathilde Dreyer heiratete mit 23 Jahren den Journalisten Sally (Salomon) Grünebaum und zog mit ihm nach Heidelberg, wo ihr Mann Chefredakteur der sozialdemokratischen Tageszeitung „Volkszeitung“ war. 1925 brachte sie die Zwillinge Elisabeth und Gertrud zur Welt. 1928 wechselte Sally Grünebaum als Redakteur für Politik und Feuilleton zur ebenfalls sozialdemokratischen Zeitung „Der Volksfreund“ nach Karlsruhe. Als erklärter Gegner der Nationalsozialisten griff er in Leitartikeln die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) scharf an.
Beginn der NS-Herrschaft
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte sich das Leben von Paula Dreyer und ihrer Familie grundlegend. Weil er Jude war, bedrängten die Nationalsozialisten ihren Mann, sodass er im Oktober 1933 seine Heilanstalt auflösen musste. Schlechte Nachrichten kamen auch aus Karlsruhe: Paula Dreyers Schwiegersohn wurde verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Am 16. Mai 1933 lieferte die Polizei Sally Grünebaum zusammen mit weiteren SPD-Anhängern in das zum Konzentrationslager umfunktionierte Gefängnis Kislau ein. Fünf Monate später kam er auf freien Fuß – unter der Bedingung, umgehend das Land zu verlassen. Im Oktober 1933 emigrierten Sally und Mathilde Grünebaum nach Palästina. Ob die Zwillinge vorübergehend in München bei Paula Dreyer und ihrem Mann wohnten, ist unklar. 1934 folgten Elisabeth und Gertrud Grünebaum ihren Eltern nach Palästina. Paula Dreyer sollte sie nie wiedersehen.
Am 1. Oktober 1934 zogen Paula und Arthur Dreyer ins Erdgeschoß der Johann-von-Werth-Straße 2. Dort freundeten sie sich mit dem nichtjüdischen Kaufmann Hanns Ebner und seiner Frau an, die in der Nachbarschaft lebten. Bald folgte eine Einladung der nächsten. Obwohl das Ehepaar Ebner immer wieder wegen seiner Beziehung zu den Dreyers angefeindet wurde, hielt es an der Freundschaft fest – und verlegte die Treffen kurzerhand in nächtliche Stunden.
Terror, Trauer und Sorgen
Die Gestapo terrorisierte Paula und Arthur Dreyer zunehmend. Mehrmals fuhren nachts zwischen zwei und drei Uhr Kraftwagen mit Gestapobeamten vor. Es muss für Paula Dreyer sehr erniedrigend gewesen sein, aus dem Bett gescheucht zu werden und im Nachthemd oder Schlafrock vor den Beamten zu stehen. Bei den Wohnungsdurchsuchungen stahlen die Gestapomänner eine wertvolle Briefmarkensammlung, Tafelsilber sowie Gold- und Silberschmuck.
Am 28. Oktober 1938 starb Mathilde Grünebaum in Tel Aviv an Krebs. Es blieb nicht bei der Trauer um ihre Tochter. Die Nachrichten aus Tel Aviv gaben insgesamt Grund zu großer Sorge. Ihr Schwiegersohn fand als Journalist keine Anstellung, weil er nicht hebräisch sprach. Mit den mittlerweile 14-jährigen Mädchen lebte er in einem Ein-Zimmer-Appartement und bezog Sozialhilfe.
Entwurzelt
Kurz nach der Aufhebung des Mieterschutzes für Jüdinnen und Juden im April 1939 erhielten Paula und Arthur Dreyer die Kündigung ihrer Wohnung. Ein auf Betreiben des NS-Regimes bei der Israelitischen Kultusgemeinde eingerichtetes Wohnungsreferat wies entmieteten Jüdinnen und Juden Unterkünfte zu. Für das Ehepaar Dreyer fand sich ab 23. Oktober 1940 nur ein Platz in der Pension Patria in der Goethestraße 54. Weil Paula und Arthur Dreyer ihre Möbel nicht dorthin mitnehmen konnten, lagerten sie einige wertvolle Stücke, das Klavier, Wäsche und Kleider in einem Lagerhaus ein. Andere Gegenstände wurden in ihrer Wohnung in der Johann-von-Werth-Straße 2 versteigert. Es muss für Paula Dreyer besonders schmerzhaft gewesen sein, das große und reich mit Schnitzereien verzierte Speisezimmer, in dem sie einst Gäste bewirtet hatte, zu einem Spottpreis von 300 Reichsmark abzugeben. Den Erlös erhielt das Ehepaar nicht zur freien Verfügung, stattdessen zog ihn das Finanzamt ein.
Krankheit und Tod
Aus der vertrauten Wohnung vertrieben zu werden und sich in dem beengten Leben in der Pension zurechtfinden zu müssen, war für Paula Dreyer sicherlich nicht einfach. Sie war zudem krank. Es ist unbekannt, woran sie litt, doch musste sie sich einer Operation unterziehen und erholte sich davon nicht mehr. Paula Dreyer starb am 27. November 1940 mit 64 Jahren. Ihr Grab befindet sich auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München.
Schicksal der Angehörigen
Paula Dreyers Mann Arthur wurde am 8. Dezember 1941 in die „Judensiedlung Milbertshofen“ gebracht, ein Barackenlager in der Knorrstraße 148. Das Ehepaar Ebner versorgte ihn dort, soweit so es möglich war, mit Lebensmitteln. Am 24. Juni 1942 wurde Arthur Dreyer ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Die katastrophalen Bedingungen dort überstand er nur acht Monate. Er starb am 24. Februar 1943.
Paula Dreyers Schwiegersohn Sally Grünebaum erlitt am 25. März 1948 während einer Augenoperation eine Gehirnblutung und starb an den Folgen. Gertrud Grünebaum schloss sich den britischen Streitkräften an und trat der Frauenabteilung Auxiliary Territorial Service (ATS) bei. Elisabeth Grünebaum ging ebenfalls zu den britischen Streitkräften und wurde Helferin bei der Women’s Auxiliary Air Force (WAAF). Nach dem Tod ihres Vaters wanderten die Schwestern in die USA aus.
Seit 24. Oktober 2022 erinnert am ehemaligen Wohnort in der Johann-von-Werth-Straße 2 eine Wandtafel an Paula und Dr. Arthur Dreyer.
Die ErinnerungsWerkstatt München e.V. lässt im Frühjahr 2023 das Grab von Paula Dreyer herrichten. So soll unter anderem die Inschrift auf dem Grabstein nachgezogen werden.
Text und Recherche
Ingrid Reuther
Quellen
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 790, Abt. IV OP 2079.
Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden.
Stadtarchiv Bielefeld, Familiendaten.
Arolsen Archives
Yad Vashem, Gedenkblatt Arthur Dreyer.
Stadtwiki Karlsruhe, Sally Grünebaum, Leben und Wirken. https://ka.stadtwiki.net/Sally_Gruenebaum.
In Karlsruhe wurden sie öffentlich verhöhnt, in: Main-Echo, 16.5.2008, https://www.main-echo.de/regional/kreis-main-spessart/in-karlsruhe-wurden-sie-oeffentlich-verhoehnt-art-375837.
Literatur
Benz Wolfgang, Theresienstadt. Eine Geschichte von Täuschung und Vernichtung, München, 2013.
Weber Reinhard: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern. München 2006.