Dipl.-Ing. Friedrich Siegfried (Fritz) Sänger
Geboren am 12. September 1891 in Augsburg
Deportiert am 4. April 1942 von München nach Piaski
Ermordet in Piaski, Todestag unbekannt
Herkunft und Familie
Siegfried „Fritz“ Sänger war das zweite Kind und der erste Sohn von Julius und Rosa (geb. Einstein) Sänger. Die Familie Sänger lebte seit 1881 in Augsburg. Die Kinder von Julius und Rosa Sänger, die alle in Augsburg geboren wurden, waren: Berta (geboren am 26. Juni 1890), Siegfried Friedrich „Fritz“ (geboren am 12. September 1891), Elsie (1893 geboren), Alfred (geboren am 4. September 1894) und Stefan Franz (geboren am 2. April 1897).
Julius Sänger war seit 1888, zusammen mit seinem Schwager Franz Knapp, Mitinhaber des sehr erfolgreichen und renommierten Augsburger Tiefbauunternehmens Kleofaas & Knapp. Das Unternehmen war 1879 gegründet worden, es beschäftigte mehrere hundert Arbeiter.
Von der Kindheit und Jugend von Fritz Sänger wissen wir nur wenig. Er besuchte zunächst das königlich humanistische Gymnasium St. Anna in Augsburg, bevor er auf das Realgymnasium Augsburg wechselte, wo er im Juli 1911 das Reifezeugnis erwarb. Bereits im Herbst des gleichen Jahres nahm er an der Technischen Hochschule in München das Studium als Bauingenieur auf.
1. Weltkrieg und Studium
Wie viele junge Männer seiner Zeit meldete sich Fritz Sänger gleich zu Kriegsbeginn, am 4. August 1914, als Kriegsfreiwilliger und unterbrach dafür sein Studium. Er scheint ein guter Soldat gewesen zu sein, da er in kurzen Abständen immer wieder befördert wurde. Weniger als ein Jahr später, wurde er am 12. Juni 1915 zum Unteroffizier und schon einen Monat später zum Offiziersaspiranten (Anwärter) ernannt. Im Mai 1917 folgte die Beförderung zum Leutnant der Reserve. Für seine militärischen Verdienste wurde er mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse sowie dem Militär-Verdienst-Orden 4. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet.
Nach dem Krieg nahm Fritz das unterbrochene Studium an der Technischen Universität in München wieder auf und schloss es 1919 mit einem Diplom als Bauingenieur ab. Mit diesem Abschluss und als ältester Sohn eines Teilhabers des Familienunternehmens Kleofass & Knapp war vermutlich sein weiterer beruflicher Werdegang vorgezeichnet. Sein Vater, der Landesgewerberat Julius Sänger, verstarb 1930 in Augsburg. Spätestens zu diesem Zeitpunkt vertrat Fritz dann die Belange der Familie Sänger in der Unternehmensleitung.
Nach Beendigung seines aktiven Dienstes diente Fritz weiter in der Reserve der deutschen Armee und erlangte den Rang eines Leutnants. In jenen Tagen war es für Juden schwierig Offizier zu werden. Fritz dachte später, dass sein Dienst in der deutschen Armee die Familie vor Schaden bewahren würde, was jedoch ein fataler Irrtum war.
Heirat
Am 23. August 1932 heiratete er Irene Lehmann, die Tochter von Karoline Lehmann (geb. Freund) und Sigmund Lehmann aus Nürnberg. Die Frischvermählten lebten in Augsburg.
Am 27. Juli 1933 wurde in Augsburg die Tochter Anneliese geboren. Anneliese war ein fröhliches Kind und eine gute Schülerin, die gerne zur Schule ging. Irene war ein freundlicher Mensch mit einem sanften Gemüt; sie war eine pflichtbewusste Tochter und eine wunderbare Mutter für ihre kleine Tochter.
Zeit im Nationalsozialismus
Irenes Bruder Siegfried (Stephen in den USA) Lehmann war 1936 mit Hilfe eines Cousins (Albert Hockster) nach Amerika ausgewandert. Er war aber kein amerikanischer Staatsbürger und konnte daher keine Dokumente vorlegen, die für ein Visum für weitere Familienmitglieder erforderlich waren.
Auch wollte seine Schwester 1936 Deutschland nicht ohne ihre blinde Mutter Karoline Lehmann verlassen. Die Vereinigten Staaten wollten zudem niemanden aufnehmen, der eine finanzielle Belastung darstellen könnte, und so wurden blinde Personen nicht zugelassen.
Die Schwester von Fritz, Elsie, bot an, ihre Nichte Anneliese nach Amerika mitzunehmen, als sie mit Mann und Sohn im Oktober 1938 auswanderten, aber Irene wollte ihre Tochter nicht gehen lassen. Kurz darauf, anlässlich der Reichspogromnacht, wurden Fritz und sein Bruder Alfred verhaftet und waren vom 11. November 1938 bis zum 15. Dezember 1938 in Dachau. Dort wurde Fritz unter Druck gesetzt. Er sollte das Familienunternehmen Kleofass & Knapp verkaufen.
Konzentrationslager Dachau
Während der Haft in Dachau hat Fritz Sänger dem Mithäftling Hans Keiles das Leben gerettet. Hans Keiles hat die Shoah überlebt und suchte nach dem Krieg nach Fritz Sänger. Wie ihm Fritz Sänger das Leben rettete, beschrieb er wie folgt:
„Er (Erläuterung: der Kapo) schlug und misshandelte uns Häftlinge, dass eine große Anzahl an den Folgen der Misshandlungen elend zu Tode kam. Wir Häftlinge mussten bei eisiger Kälte um 4 Uhr morgens aufstehen und wurden dann sofort zum Appellplatz geführt, wo wir bis 9 Uhr stillstehen mussten. Von 9 bis 11 Uhr wurde marschiert und in Kniebeugestellung gesprungen, wobei uns die SS häufig Fußtritte versetzte. Die zweite Hälfte des Tages verlief in der gleichen entsetzlichen Form. Die Nahrung war schlecht und sehr spärlich. Morgens um 4 Uhr erhielten wir ein Stück trockenes Brot (ungefähr den 4. Teil eines Kommissbrotes), das als Brotration für den ganzen Tag zu reichen hatte. Dazu gab es morgens einen Becher Kaffee (warmes Wasser), mittags einen Blechteller Suppe für 2 Mann, der stehend im Freien gelöffelt werden musste und nachmittags um 16 Uhr noch ein Stück Hering oder Käse. Damit war die Verpflegung für den ganzen Tag erschöpft.
Die Bekleidung der Häftlinge bestand in dieser kalten Winterzeit lediglich aus Gefangenensommerbekleidung d.h. aus einer dünnen Drillich-Jacke und Drillich-Hose. Hemd und Unterkleidung mussten bei Einlieferung abgeliefert werden. Die Schuhe wurden absichtlich zu eng verpasst, wodurch die Füsse anschwollen und sehr stark schmerzten. Da wir tagsüber nie in die schützende Baracke durften, war die dünne Kleidung, die als einziger Anzug während der ganzen Haftdauer nicht gewechselt werden konnte, immer nass. Nachts hatten je 7 Häftlinge, die auf blankem Stroh kampierten, zusammen eine Decke.
Eines Tages wurde uns befohlen, eine heisse Dusche zu nehmen. Kaum standen wir unter dieser heissen Dusche, als der Befehl zum sofortigen Heraustritt ins Freie gegeben wurde. Mir selbst wurde keine Zeit zum Abtrocknen gelassen, sodass ich mit dem heissen und nassen Körper in die dünne Kleidung springen und in diesem Zustand von 16 bis 21 Uhr im eisigen Wind im Freien stehen musste. Nach 2 Stunden begannen meine sämtlichen Gliedmassen stark zu schlottern, sodass ich glaubte, mein Ende sei gekommen. Ein schlimmer Ausgang für mich wurde nur dadurch abgewandt, dass ein Mitgefangener, der zufällig keine Dusche genommen hatte, sich mit mir in eine Decke wickelte und mich mit seiner Körperwärme wieder erwärmte."
München
Durch den Verlust des Familienunternehmens hatte die Familie keinen Lebensunterhalt, keinen Besitz und keine Rechte mehr. Der Militärdienst von Fritz Sänger bedeutete nichts mehr für Deutschland, also sein Land. Im Oktober 1939 wurden Fritz und seine Familie gezwungen, von Augsburg nach München umzuziehen. Die Familie wohnte bis zu ihrer Deportation in der Maria-Einsiedel-Straße 4 I. In München erzwang die Gestapo die Räumung des jüdischen Gemeindezentrums, in dem Fritz Sänger in einer Werkstatt für Holz- und Metallbearbeitung unterrichtete. Die Werkstatt wurde in die Reichenbachstraße 27 verlegt. Die Ausbildung, die auch das Erlernen von Fremdsprachen umfasste, sollte die Arbeiter auf die Emigration vorbereiten. Handwerker und Landwirte hatten wesentlich bessere Chancen, ein Visum zu bekommen, vor allem für Australien und lateinamerikanische Länder. Während in früheren Jahren bis zu 100 Lehrlinge ausgebildet wurden, konnte die Gemeinde bis 1941 nur noch 50 Lehrlinge ausbilden. Aus Familienbriefen geht hervor, dass Fritz und seine Familie 1939 und 1940 versuchten, Deutschland zu verlassen. Es war aber in diesen Jahren fast unmöglich, eine eidesstattliche Erklärung eines Bürgen mit US-Staatsbürgerschaft, Geld für Tickets, Ausreisesteuern und andere Dokumente zu bekommen. Die USA hatten inzwischen außerdem ein Visumskontingent, das bald voll war, mit einer Warteliste, die sich über Jahre hinzog. Viele Juden in Deutschland versuchten, das Land zu verlassen.Vor jeder Botschaft, die Juden aufnehmen konnte, bildeten sich lange Schlangen. Die meisten Länder nahmen nur wenige oder gar keine Juden auf. Als Ende 1939 der Zweite Weltkrieg begann, wurden die Grenzen geschlossen. Die Sängers saßen nun in der Falle. Irenes Bruder Stephen war untröstlich, dass er für seine Schwester und ihre Familie keine sichere Ausreise nach Amerika organisieren konnte.
Piaski
Am 4. April 1942 wurden Fritz und seine Familie nach Piaski deportiert. Um Platz für die Juden aus Deutschland zu schaffen, wurden alle polnischen Einwohner von Piaski in Todeslager geschickt. Anneliese Sänger, gerade acht Jahre alt, und ihre 37-jährige Mutter erlagen 1942 den grauenhaften Bedingungen im Ghetto Piaski. Fritz Sänger, Sprecher des Münchner Transports in Piaski und Mitglied des Judenrats, kämpfte für die Verbesserung der sanitären Bedingungen in dem überfüllten Ghetto. Die wenigen sanitären Einrichtungen des Ghettos waren in einem katastrophalen Zustand und nicht für mehr als 5.000 Menschen ausgelegt. Ein Mann berichtete, dass die Menschenmassen in diesen Einrichtungen unbeschreiblich waren und der Anblick der zu Skeletten reduzierten Menschen, von denen viele kaum auf den Beinen stehen konnten, schrecklich deprimierend war. Sie hatten keine Möglichkeit, sich zu waschen. Fritz erreichte die Instandsetzung der Ghettobäder, wodurch die Ausbreitung von Typhus eingedämmt wurde. Die Bedingungen im Ghetto Piaski waren unmenschlich. Der eklatante Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten sowie die Überbelegung der Wohnräume führten schnell zum Tod. Durch schwere Zwangsarbeit im Straßenbau oder auf Bauernhöfen überlebten viele der aus München Deportierten den Sommer 1942 nicht. Zahlreiche Menschen wurden von den Deutschen in umliegende Lager gebracht, wo sie an anderen Verbesserungsprojekten arbeiten mussten. Außerdem gab es bis zur Auflösung des Ghettos am 1. November 1942 regelmäßige Deportationen in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor. Ein Restghetto bestand in Piaski noch bis zum 1. März 1943. Zwischen 1.000 und 2.000 der letzten Ghettobewohner wurden bei der endgültigen Liquidierung erschossen. Im Herbst 1942 wurde Fritz Sänger in das nahe gelegene Zwangsarbeitslager Sawin geschickt, wo er bei der Trockenlegung von Sümpfen eingesetzt wurde. Seine Spur verliert sich im November 1942 im Vernichtungslager Sobibor. Höchstwahrscheinlich wurde Fritz in Sobibor ermordet. Das genaue Datum und der genaue Ort sind unbekannt. Wir wissen nichts von Überlebenden des Transports mit tausend Juden von München nach Piaski am 4. April 1942.
Gedenken
Am 24. Mai 2023 wurde vor dem letzten Wohnsitz der Familie Sänger, in der Maria-Einsiedel-Straße 4, ein Erinnerungszeichen übergeben. Die Gedenkfeier fand im Beisein von mehreren Familienmitgliedern, u.a. aus den USA, statt.
Text und Recherche
Nancy Freund Heller & Stefan Dickas
Quellen
Stadtarchiv Augsburg, Signatur MB Sänger Friedrich, Sänger Julius, MK 2 Sänger Friedrich und Signatur MK 1 Sänger Rosa.
Archiv der Technischen Universität München, Bestand Personalakten Studierende.
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Abt. IV Kriegsarchiv, Signatur OP 12072.
Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Signatur LEA 31585.
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Signatur 518-8403, Blatt 51, Entschädigungsakte Hans Keiles).
Internetquellen
https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=1786 aufgerufen 9.10.2024.
www.ancestry.com Kriegsstammrollen zu Friedrich Siegfried Sänger.
www.statistik-des-holocaust.de, Deportationslisten Bayern, Transport 4.4.1942 München-Piaski.
https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=anlernwerkstatt.
https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=piaski.
Literatur
Hindl, Arnold: Einer kehrte zurück – Bericht eines Deportierten, Deutsche-Verlags-Anstalt Stuttgart, 1965, Seite 25 ff.
Landeshauptstadt München (Hrsg.): Jüdisches Leben in München – Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, Buchendorfer Verlag, 1995, Beitrag von Kössel, Ina, Seite 64 ff und Beitrag Heinemann, Herbert, 104ff.
Janetzko, Maren: Die Restitution mittelständischer Unternehmen in Augsburg und Memmingen in: Fassl, Peter (Hrsg): Ausplünderung der Juden in Schwaben während des Nationalsozialismus und der Kampf um Entschädigung, Konstanz, 2020, S. 177-179.