Verlorene Heimat - Ehemalige Münchner Juden schreiben im Münchner Mosaik
In der Zeit von 1975 bis 1997 erschien die Zeitschrift „München Mosaik – Zeitschrift für den Münchner und ihre Freunde“. Im November 1983 bat man ehemalige jüdische Mitbürger, die im Ausland lebten, ihre ganz persönlichen Erinnerungen an das München ihrer Zeit zu schreiben. Sie wurden gebeten, zu schildern, wie sie die letzten Jahre vor ihrer erzwungenen Auswanderung erlebten.
Dr. Max Kurt Hirschfelder (Jahrgang 1912), dessen Biografie wir veröffentlicht haben, schrieb für die Ausgabe im Juni 1985 einen Beitrag, den wir hier gerne wiedergeben wollen. Der Sohn von Dr. Hirschfeld hat den Text im Nachlass seines Vaters wieder entdeckt und uns zur Verfügung gestellt:
Verlorene Heimat
“Freunde, die in Amerika leben, seien sie deutscher oder amerikanischer Abstammung, wundern sich, manchmal unter beträchtlichem Kopfschütteln, dass ein Münchner, der seit beinahe fünf Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lebt, dort seine Familie hat und sich eine gute Laufbahn gestaltete, seine Gedanken öfters zu seiner Geburtsstadt München zurückschweifen lässt. Wie kann man das ihnen klarmachen? Es ist nicht leicht, das Wort „Heimat“ in die englische Sprache zu übersetzen. Weder „homeland“ noch „fatherland“ entsprechen dem wahren Sinne des Wortes. „Heimat“ bedeutet die „Wurzeln unseres Lebens“. Diese Wurzeln wurden in blindem Hasse für uns deutsche Juden, die oft seit Jahrhunderten in den deutschen Boden tief eingepflanzt waren, herausgerissen und vor die Füße geworfen. Die Wunden waren tief, tiefer als die meisten Menschen je erdulden müssen. Narben bleiben Narben und viele schmerzen auch heute noch.
Wir Münchner haben vielleicht etwas größere Schmerzen als unsere jüdischen Freunde aus anderen Gegenden von Deutschland. Wir waren München tief verbunden. Es war für uns mehr als eine Stadt, in die uns der Zufall der Geburt verschlug. Wir liebten jede große oder kleine Straße, kannten jeden Platz und jede kleine Ecke. Wir wussten, was für Unternehmen und was für Menschen hinter jeder Fassade tätig waren. Die mütterliche Kellnerin beim Spöckmeier war eine vertraute Person und der jugendliche Verkäufer beim Sport-Schuster gegenüber war ein wertvoller Ratgeber für den Ski-Einkauf. Wie oft haben wir als kleine Kinder zur Weihnachtszeit die Nasen an die Schaufenster des Kaufhauses Hermann Tietz (jetzt Hertie) gedrückt und die animierten Märchenpuppen bewundert. Oder schauten mit sehnsüchtigen Augen den Märklin-Eisenbahnmodellen beim Obletter zu, der in diesen frühen Jahren noch in der Rosenstraße beim Marienplatz war und erst später zum Stachus umzog. Sind wir nicht oft über die hölzernen Stufen an den großen Glocken vorbei auf einen der Frauentürme hinaufgeklettert, lange bevor es einen Aufzug gab? Wir sahen vom Turmzimmer hinunter auf alles, was uns so nahe lag und versuchten, an klaren Tagen die einzelnen Berge, allen voran die Zugspitze, zu sehen und zu nennen.
Das Deutsche Museum war für uns Kinder noch in seiner temporären Behausung beim Max-II-Monument und zog erst im Jahre 1925 auf die Isarinsel um, ein Ereignis, das mit einem prächtigen Festzug gefeiert wurde. Oskar von Millers grauer Bart wehte freudig im Winde an diesem Tag. Wir fanden das Bergwerk im Keller des neuen Museums schöner als das im alten, der Apparat des Physikers Röntgen, der uns unsere Handknochen zeigte, machte den Umzug mit, und wir konnten weiter versuchen, die Magdeburger Halbkugeln, durch ein Vacuum zusammengepresst, auseinanderzuziehen.
Sind es solche entwurzelten Erinnerungen, die mich ins Café Reichsadler zurückführen und im Geiste der Kapelle Marek Weber zuhören lassen? Oder im Fürstenhof dem Bernhard Etté? Oder im Café Luitpold dem eleganten Barnabas von Gezy? Sind es ähnliche Gedanken, die mich, wiederum im Geiste, am Sonntagvormittag zu den Tönen der Soldaten-Kapelle vor der Feldherrnhalle auf und ab promenieren lassen? Oder einer Vorlesung des großen Juristen Kisch oder einer des Theaterwissenschaftlers Kutscher an der Universität beizuwohnen? Wo in der Welt gab es eine Stadt, wo ein Junge von seinem Vater in den „Simplicissimus“ mitgenommen werden konnte, von der Kathi Kobus begrüßt wurde und dem Matrosen-Humoristen Joachim Ringelnatz und seinem „Duddle Daddle Doo“ zu Füßen saß? Oder ins Wagnerbräu in der Sonnenstraße gehen durfte, um sich über den Karl Valentin und die Liesl Karlstadt totzulachen? Vom Weiß Ferdl ganz zu schweigen. Sein „Fähnlein“ ist noch immer „weiiiß und blau“. Er ist schon über dreißig Jahre tot, aber in meinen Ohren singt er, als ob er noch immer da wäre. Auch die geschnitzten Weihnachtsfiguren auf dem Krippenmarkt in der Sonnenstraße haben ihren anheimelnden Eindruck nicht verloren und die Litanei des „billigen Jacobs“ auf dem Christkindlmarkt in den Sendlinger-Tor-Anlagen bleibt noch heute lebendig.
Welch himmlisches Erlebnis, wenn einen die Mutter zu ihrem „Kränzchen“ in den Hofgarten zum Café Annast mitnahm und dem jungen Sohn Himbeereis bestellte. Das gleiche „Annast“, wo später im ersten Stock der Meister-Conférencier Adolf Gondrell Kabarettkünstler ansagte.
Sind dies genügend „Wurzeln“? Soll ich von feierlichen Studentenfackelzügen für die medizinischen Kapazitäten Professor Sauerbruch und Professor Döderlein erzählen? Oder vom Schlittschuh laufen auf dem Kleinhesseloher See und vom „Räuber und Schani“-Spielen auf dem Kaiser-Ludwigs-Denkmal? Oder einem abendlichen Radlbesuch beim „Aumeister“ oder eine Bier- und Rettich-Vesper auf dem Bavaria-Keller über der Theresienwiese? …
All dies ist nur noch Erinnerung, verlorene Erinnerung. Ich könnte noch durch viele Seiten und Spalten so fortfahren, von Stadtbummeln, Ausflügen, Theater- und Opernbesuchen berichten, vom Theresien-Gymnasium und von Staffelläufen erzählen, aber das würde ein ganzes Buch werden und kein Magazinartikel.
Man frägt sich: „Warum ist uns dies alles verlorengegangen?“ War es unsere Schuld? Was haben wir denn getan, dass ich schon in frühester Jugendzeit wusste, dass ich nie dem Tennisclub „Iphitos“ oder der Sektion „München“ des deutsch-österreichischen Alpenvereins als Mitglied beitreten konnte? Warum waren wir jüdischen Schüler viel mehr von unseren Schulkameraden anderen Glaubens während der Schulpausen an den „Marterpfahl“ gehalten? War es nicht seltsam, dass die Tanzstunde unserer Gymnasialklasse beim Valenci, wo die Siebzehnjährigen ihre erste „offizielle“ Begegnung mit „höheren Töchtern“ erlebten, nicht die paar jüdischen Mitschüler miteinbegriff? Die junge jüdische Gesellschaft hatte ihre eigene Tanzstunde beim Tanzlehrer Lustig in der Promenadestraße, die jüdischen Wandervögel ihre eigenen Vereine und die jüdischen Studenten ihre eigenen Verbindungen. Schon gegen das Ende des 19. Jahrhunderts waren solch deutsch-jüdische Verbindungen an den deutschen Universitäten ins Leben gerufen worden, um den Antisemitismus an den Universitäten zu bekämpfen. In München war es die „Licaria“, die im Jahre 1933 prompt einem Polizeierlass erlag. Warum all das? Ein dem Stahlhelm angehöriger Medizinstudent, dem ich durch viele Semester hindurch beim Anatomen Mollier, beim Internisten v. Müller und beim Chirurgen Lexer begegnet war, wollte mir zeigen, dass er kein richtiger Nazi sei: „ich weiß, dass Sie sich um ihre Zukunft sorgen. Aber das „internationale Judentum“ wird Ihnen schon zu einer guten Laufbahn außerhalb von Deutschland verhelfen.“ „International“? Wir waren gebürtige Münchner, gut bayerisch national mit einer israelitischen Religion. Das glaubten und atmeten wir, bis uns der Hitler und seine Anhänger das Bayerntum und das Münchnertum wegnahmen und uns als Gegner von allem, was uns lieb war, markierte.
Es sind bald fünf Jahrzehnte, seit ich Deutschland und München verlassen musste. Für die meisten, die jetzt dort leben, ist diese Zeit nur noch „historisch“. Aber die, die den Verlust am eigenen Leibe erlebten, können ihn nicht einfach in den Hintergrund geschichtlicher Ereignisse versetzen. Sie können das nicht tun, selbst wenn man, wie ich, das Glück hatte, die späteren Ereignisse unter den Nazi-Gesetzen zu vermeiden und frühzeitig auswandern konnte. Dank der Großzügigkeit meiner zweiten Heimat, den Vereinigten Staaten von Amerika, war es möglich, ein neues Leben aufzubauen. Wir sind eine amerikanische Familie, ich bin ein amerikanischer Arzt und bin der neuen Welt tief verpflichtet. Aber oft, vielleicht zu oft, höre ich noch immer im Innersten den letzten Vers des Liedes „Am Brunnen vor dem Tore“: „Jetzt bin ich manche Stunde entfernt von diesem Ort. Noch immer hör` ich`s rauschen, Du fändest Ruhe dort!“ Aber es ist eine andere Zeit und das, was wir in unserer Jugend hatten und schätzten, ist für immer dahin. Und heimlich wischt man sich eine Träne vom Auge. Nur waschechte Münchner können das verstehen.
Dr. med. Max Hirschfelder
Centralia, Illinois, USA“
Autor:
Stefan Dickas
Quellen:
Originaltext von den Erben des Dr. Max Hirschfelder erhalten, der in der Zeitschrift München Mosaik, Ausgabe Juni 1985, veröffentlicht wurde.