Das Ledigenheim im Münchner Westend
Wohnungsmangel
Nicht nur heutzutage besteht in München ein akuter Wohnungsmangel. Ein weitaus schlimmerer Zustand herrschte am Ende des 19. Jahrhunderts, bedingt durch die Industrialisierung und das Anwachsen der Bevölkerungszahl. „1852 überschritt die Einwohnerzahl der Stadt die Grenze von 100.000, wodurch sie zur Großstadt wurde. 1883 hatte München 250.000 Einwohner, bis 1901 verdoppelte sich diese Zahl auf 500.000. Damit war München nach Berlin und Hamburg die drittgrößte Stadt im Deutschen Reich.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Einwohnerentwicklung_von_M%C3%BCnchen abgerufen am 10.12.2022
Vereinsgründung
Angezogen durch den Bau der Eisenbahnlinie nach Augsburg und die Arbeitsplätze bei den Brauereien samt Zulieferern zogen immer mehr Arbeiter und Tagelöhner ins Westend. Diese unteren Bevölkerungsschichten lebten in erbärmlichen Verhältnissen mit sozialer Sprengkraft und brachten einen erheblichen Siedlungsdruck. Die Gründung der ersten Baugenossenschaften sollte Linderung bei der Wohnungsnot bringen. Einige sozial eingestellte, wohlhabende Bürger wollten ebenfalls Abhilfe schaffen. Sie gründeten einen gemeinnützigen Verein, der nach den Vorbildern in London, Wien und Berlin die Schaffung von menschenwürdigen Unterkünften vorantreiben sollte. In Paragraf eins der Satzung, aus dem Jahr 1913, wird der Zweck des Vereins beschrieben: „Der Verein Ledigenheim München (e.V.) verfolgt den Zweck, zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der männlichen ledigen Arbeiter, sowie der ihnen wirtschaftlich gleichstehenden Berufsklassen, überwiegend der versicherungspflichtigen Personen, in München beizutragen. Er sucht diesen Zweck zu erreichen, durch Schaffung von Ledigenheimen, in welchen unter Verzicht auf Gewinn den Angehörigen der vorerwähnten Berufsklassen Unterkunft und Verpflegung gewährt werden soll.“ Im Aufsichtsrat saß unter anderem auch der spätere Architekt des Ledigenheims, Theodor Fischer.
Dank einer großzügigen Spende des Vereinsmitglieds Freiherr Theodor von Cramer-Klett konnte ein geeignetes Grundstück in der Bergmannstraße direkt gegenüber der bereits 1891 errichteten Bergmannschule gekauft werden. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die danach einsetzende Inflation verhinderten jedoch den Baubeginn. „Seit 1918 legte der Münchner Stadtrat jährlich ein Bauprogramm von mehreren Millionen Mark auf, dessen Mittel vor allem den Münchner Wohnungsbaugenossenschaften, -vereinen und -gesellschaften zugutekamen.
1923 wurden in München 27.696 amtlich registrierte Wohnungssuchende gezählt.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialer_Wohnungsbau_in_M%C3%BCnchen abgerufen am 27.12.2022)
Das Gebäude
Mit einem Darlehen aus diesem Programm ermöglichte der Stadtrat den Bau des Ledigenheims. Theodor Fischer legte 1925 einen ersten Entwurf des Ledigenheims vor, das heute als eines der Beispiele des „Neuen Bauens“ in München gilt. Als am 1. Juni 1927 das Ledigenheim eröffnet wurde, kam der Stil der Neuen Sachlichkeit allerdings bei großen Teilen der Bevölkerung nicht gut an. Besonders der konservative Geschmack verdammte die „rote Junggesellenburg“.
Fischer lehnte die Kritik ab und verwies auf die Tradition altbayerischer Ziegelbauten (hier nur erwähnt die Frauenkirche und das Sendlinger Tor). Mit den vorhandenen finanziellen Mitteln sollten möglichst viele Zimmer und gute sanitäre Verhältnisse den Bewohnern angeboten werden. So konnten 324 kleine Zimmer, die mit dem Nötigsten ausgestattet waren – immerhin mit Waschbecken und fließendem Wasser –, geschaffen werden.
Bei den Gestaltungselementen der Fassade begnügte sich Theodor Fischer mit einem umlaufenden Betonstreifen und einigen Backsteinreliefs des Bildhauers Karl Knappe, die allerdings heute nur noch schwer zu erkennen sind.
Das Ledigenheim in der Zeit des Nationalsozialismus
Wie viele andere Organisationen wurde auch das Ledigenheim in der Zeit des Nationalsozialismus gleichgeschaltet. Am 16. August 1933 wurde Regierungsrat Max Gaum bei der Aufsichtsratssitzung zum Vorsitzenden bestellt. Zum Vorstandsvorsitzenden wurde das ehemalige Gründungsmitglied Bankoberinspektor a.D. Peter Wittmann bestimmt. Er wurde allerdings schon am 10. Dezember 1934 vom Justizoberamtmann Josef Balk abgelöst. „Mit der Sitzung vom 10. Dezember 1934, … brechen die sorgfältig geführten Protokolle des Aufsichtsrates ab. Das Ledigenheim erfüllte nun unter straffer Leitung weiter seine Funktion … 1945 aber war die Anlage heruntergekommen und erheblich abgewirtschaftet.“ Müller-Rieger Seite 141
Wie das Leben der Bewohner des Ledigenheims während der NS-Diktatur verlief kann ich nicht beurteilen oder beschreiben. Vielleicht können uns einige kurze biografische Hinweise zum Aufsichtsratsvorsitzenden Max Gaum eine vage Vorstellung über seinen Einfluss und seine Einstellung geben.
„Max Gaum war ein Macher, einer der entscheiden und etwas bewegen wollte. Er zählte zu den fähigsten Beamten, die in den dreißiger und vierziger Jahren im bayerischen Staatsdienst standen - und zu den furchtbarsten.“ Krischer Seite 18
„Im Mai 1922 erhielt er eine Stelle als Aushilfskraft bei der Regierung von Oberbayern. Zu seinem Fachgebiet sollte sich von nun an das Wohlfahrtswesen entwickeln. Später, viel später, als er bereits im Innenministerium arbeitete, übernahm er die Leitung des Landesjugendamtes und hatte als Stellvertreter des Präsidenten des Bezirksverbandes Oberbayern und Fachbeamter im Ministerium die Aufsicht über sämtliche Pflegeheime in Bayern. Von 1940 bis 1945 organisierte Gaum in dieser Schlüsselposition die Ermordung der in den bayerischen Heimen untergebrachten Behinderten. Es waren über 23 000 Menschen, die vergast, vergiftet oder durch Essensentzug ermordet wurden. Gaum wusste davon, plante mit, hielt den Verwaltungsapparat am Laufen. Der Krüppel, Psychiatriepatient und gescheiterte Selbstmörder entschied über jene, die für die Gesellschaft keinen Nutzen versprachen. Der Mann, dem ein Bein, ein Auge, und mehrere Finger fehlten, den die Granatsplitter in seinem Körper marterten, der die eigene Existenz nur mit hohen Dosen Veronal ertrug, organisierte die Vernichtung tausender als wertlos beurteilter Menschen. Max Gaum ermöglichte auch die systematische Tötung behinderter Kinder in Bayern.“ Krischer Seite 24 f
Über die beiden Vorstandsvorsitzenden des Ledigenheims ist nichts bekannt, außer, dass Peter Wittmann den Nationalsozialisten nicht genehm war, so dass er bald abgelöst wurde.
15 Verfolgte in der Zeit von 1933 bis 1945
Von den mir bekannten fünfzehn Verfolgten des NS-Regimes, die im Ledigenheim lebten, konnten vier emigrieren. Jeweils zwei Personen starben in Auschwitz, Kaunas, Hartheim und München. Ein ehemaliger Bewohner starb in Theresienstadt, von einem ist das Schicksal unklar und ein weiterer konnte die Shoah überleben. Warum auch eine Frau im Ledigenheim gewohnt haben soll, entzieht sich meinen Kenntnissen.
David Ludwig Bloch, geboren am 25. März 1910 in Floß, Kreis Neustadt an der Waldnaab, wohnte vom 9. November 1934 bis zum 1. Januar 1935 im Ledigenheim. Er emigrierte im April 1940 nach Shanghai und 1949 in die USA. Er starb am 16. September 2002 in Barrytown, New York.
Benny Brader, geboren am 1. Oktober 1874 in Hamburg, wohnte vom 25. Juli 1932 bis zum 8. August 1936 im Ledigenheim. Er wurde am 16. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und dort am 2. Dezember 1942 ermordet.
Wilhelm Holzer, geboren am 8. Juni 1897 in Würzburg, wohnte seit 4. Juni 1927 im Ledigenheim. Er emigrierte nach Frankreich und wurde am 4. September 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Wolfgang Heinz Hönigstein, geboren am 18. September 1909 in Berlin, wohnte vom 1. März 1929 bis zum 1. November 1932 im Ledigenheim. Er emigrierte am 19. September 1933 nach Prag und wurde am 22. Dezember 1942 nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurde Wolfgang Hönigstein am 18. Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Ludwig Kirschbaum, geboren am 24. April 1881 in München, wohnte vom 17. August 1935 bis zum 7. September 1935 im Ledigenheim. Er starb am 8. April 1939 im Israelitischen Krankenheim in München.
Ludwig Lewin, geboren am 2. Mai 1883 in Lemberg (ukr. Lwiw), wohnte 1935 im Ledigenheim. Er emigrierte zunächst nach Ferramonti in Italien und am 6. Dezember 1943 in die USA.
Kurt Albert Ludwig Maison, geboren am 22. September 1890 in Passau, wohnte vom 1. März 1935 bis zu seinem Tod am 26. September 1943 im Ledigenheim.
Mina Marx, geb. Sperling, geboren am 11. Juli 1902 in München, wohnte vom 7. Juni 1927 bis zum 1. Januar 1929 im Ledigenheim. Mina Marx konnte am 25. Juli 1939 über London nach Long Island, USA, emigrieren.
Albert Reich, geboren am 6. September 1907 in Neuburg a.D., wohnte im Ledigenheim. Er wurde am 1. Februar 1932 von der Nervenklinik in der Nußbaumstraße nach Eglfing-Haar verlegt, am 10. Mai 1940 in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und ermordet.
Siegfried Rosenbaum, geboren am 13. September 1902 in München, wohnte vom 1. Oktober 1931 bis zum 1. September 1932 im Ledigenheim. Er emigrierte am 6. November 1938 nach Portland, USA.
Heinrich Rotholz, geboren am 30. Juli 1896 in Wien, wohnte vom 1. Juni 1927 bis zum 1. August 1933 im Ledigenheim. Er emigrierte am 3. Februar 1939 in die Niederlande, kam 1945 nach München zurück und überlebte die Shoah.
Wilhelm Schröder, geboren am 6. November 1903 in Tondern i. Schleswig, wohnte im Ledigenheim. Er wurde am 5. März 1934 von der Nervenklinik in der Nußbaumstraße nach Eglfing-Haar verlegt, am 10. Mai 1940 in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert und ermordet .
Richard Sicher, geboren am 9. Januar 1881 in München, wohnte vom 29. März 1934 bis zum 6. März 1936 im Ledigenheim. Er wurde am 20. November 1941 nach Kaunas deportiert und dort fünf Tage später ermordet.
Emil Steppacher, geboren am 28. Mai 1896 in Ichenhausen, wohnte vom 15. August 1933 bis zum 1. September 1936 im Ledigenheim. Er wurde am 20. November 1941 nach Kaunas deportiert und dort fünf Tage später ermordet.
Karl Weiß, geboren am 25. März 1899 in München, wohnte vom 20. April 1937 bis zum 20. Februar 1941 im Ledigenheim. Sein Schicksal ist unbekannt.
Literatur
Krischer, Markus: Kinderhaus, Leben und Ermordung des Mädchens Edith Hecht, München 2006
Ledigenheim München 1987, 1913 Gründung des Vereins – 1927 Eröffnung des Heimes, herausgeg. vom Verein Ledigenheim e.V., München 1987
Müller-Rieger, Monika: Westend: von der Sendlinger Haid’ zum Münchner Stadtteil, München 20002
Rädlinger, Christine: Heimat im Ledigenheim, Zum 100-jährigen Bestehen herausgeg. vom Verein Ledigenheim e.V., München 2013
Autor:
Klaus-Peter Münch