Siegmund Hellmann
Geboren am 19. März 1872 in München
Ermordet am 20. November 1942 im Ghetto Theresienstadt
Privatleben
Siegmund Hellmann kam am 19. März 1872 in München zur Welt. Seine Eltern waren der Bankier Heinrich Hellmann (1819-1880) und Zerline Hellmann, geb. Karl (1838-1923). Er hatte noch eine 8 Jahre ältere Schwester, die spätere Schriftstellerin Carry Brachvogel (1864-1942).
Siegmund Hellmann besuchte das Maximiliansgymnasium in München. Danach begann er Jura in München und Berlin zu studieren, wechselte aber bald das Fach und studierte Geschichte in Berlin und München. Nebenfächer waren die deutsche Literaturgeschichte und die historischen Hilfswissenschaften. Hier war sein Lehrer Ludwig Traube, Begründer der lateinischen Philologie des Mittelalters.
Im Jahre 1905 heiratete er Emma Richter. Das Paar bekam zwei Kinder, 1906 Georg Heinrich („Heinz“) und 1908 Eva. Aber die Ehe zerbrach und wurde 1914 geschieden. Die Beziehung zu den Kindern war nach der Scheidung nicht einfach, riss aber nie gänzlich ab.
Wissenschaftliche Laufbahn
1895 schloss Hellmann seine Promotion ab, die im Jahr darauf unter dem Titel „Die sogenannten Memoiren de Grandchamps und ihre Fortsetzungen und die sogenannten Memoiren des Marquis de Sassenage“ erschien. Die angeblichen Memoiren sollen um 1702 entstanden sein und schildern europäische Kriegsereignisse in Italien und während des Spanischen Erbfolgekrieges.
Siegmund Hellmann schlug eine Hochschulkarriere ein. Bereits nach dem Abitur war er zum Protestantismus konvertiert, um so bessere Aufstiegschancen zu haben. Tief scheint die Verbindung zum Protestantismus nicht gewesen zu sein, denn in seiner Promotionsakte vermerkte der Kunsthistoriker Wölfflin pikiert, dass Hellmannn „in seinem Curriculum die Confession verschwiegen [hat], was nach allgemeiner Uebung unzulässig ist.“
Schon vier Jahre später, 1899, folgte seine Habilitation, die er im Jahr darauf unter dem Titel „Die Grafen von Savoyen und das Reich bis zum Ende der staufischen Periode“ veröffentlichte.
Zugleich erhielt er 1899 die Lehrerlaubnis. Allerdings musste er als Privatdozent zehn Jahre lehren, bevor er 1909 Titel und Rang eines außerordentlichen Professors erhielt. Das bedeutete, dass seine wirtschaftliche Stellung immer eine unsichere war. Das Gesuch der Universität im Herbst 1913, ihm einen fest besoldeten Lehrauftrag zu erteilen, beschied das Kultusministerium abschlägig.
Zunächst lag sein Lehrgebiet auf der französischen Geschichte des 17. und 18. Jahrhundert, bevor er seinen Schwerpunkt auf die mittelalterliche Geschichte verlegte. Hier rückte er, eingedenk seiner Nebenfächer, philosophisch-philologische Fragestellungen in den Mittelpunkt. Er arbeitete an mittelalterlichen Quelleneditionen mit und übernahm während des Ersten Weltkrieges Veranstaltungen bei den historischen Hilfswissenschaften. Außerdem hielt er Einführungsvorlesungen für das Studium der Geschichte.
Hellmann unterrichtete nicht nur an der Universität, sondern übernahm auch Lehraufträge an der Handelshochschule, so beispielsweise zu den „politischen Ideen der Gegenwart“.
Zudem engagierte Hellmann sich auch in universitären Gremien: Nach den Hochschulwahlen im Juli 1906 entsandte die Universität den Mathematikprofessor Lindemann in den oberbayerischen Landrat, der politischen Vertretung der bayerischen Kreisgemeinden. Hellmann wurde als Stellvertreter nominiert. Und in der 1908 gegründeten „Ortsgruppe München des deutschen Hochschullehrertages“ übernahm er das Amt des Schriftführers. Das Gremium verfasste eine öffentliche Solidaritätsadresse, nachdem dem katholischen Theologen Joseph Schnitzer die Lehrbefugnis von kirchlicher Seite entzogen worden war, weil dieser „modernistische“ Auffassungen vertrat.
Politische Einstellung
Hellmann vertrat liberale Ideen – dies lässt sich in seinen Reden und Schriften belegen. So monierte er 1911 in seiner Rede im Audimax vor den freien Burschenschaften zum 40. Jahrestag der Reichsgründung vor dem „Kultus der Autorität“:
„Der Deutsche von heute besitzt eine Reihe von Tugenden, die ihn in vielen Beziehungen jedem andern Volk überlegen sein lassen: eine seltene Hilfsbereitschaft, ein Maß von Zuverlässigkeit, Pflichttreue und Ehrlichkeit, dem sich vielleicht nur noch sein angelsächsischer Vetter vergleichen kann. Er hat mustergültige soziale Institutionen ausgebildet – und trotzdem fehlt seinem Wesen das Höchste und Beste: die freie Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit und ihren Rechten.“ (S.7f)
… Wir sind in eine Verherrlichung und Vergötterung alles Geltenden hineingetrieben, die schlimmer ist als die Anarchie, weil sie die Selbständigkeit lähmt, weil sie gedankenlos und am letzten Ende unehrlich macht. Dieser Kultus der Autorität ist es, der so eminent verderblich ist, weil er unsittlich ist. Auch er entspringt letzten Endes dem deutschen Grundübel, dem Mangel an stolzer, aufrechter Gesinnung, die sich zu behaupten weiß, weil sie fremde Ehre achtet.“ (S. 8f).
Er forderte seine Zuhörer in einem kurzen prägnanten historischen Aufriss auf, sich der aufklärerischen Linie verpflichtet zu fühlen, die er von Lessing bis Theodor Mommsen zog.
Heutige Leser und Leserinnen mag die zeitgenössische völkerkundliche Psychologie befremdlich erscheinen, damals jedoch fand die Rede starken öffentlichen Widerhall. Die Zeitungen berichteten darüber und notierten, wo es „stürmischen Beifall“ gab. Das hatte zur Folge, dass in den nächsten Jahren der Jahrestag der Reichsgründung offiziell von der Universität mit einer Rede des Rektors abgehalten wurde.
Politisch stand Hellmann dem Linksliberalismus nahe. In der Umbruchszeit während und nach dem Ersten Weltkrieg trat Hellmann mit mehreren Vorträgen und Schriften öffentlich hervor, die sich mit aktuellen Fragestellungen befassten: „Deutschland und Amerika“ (1917), „Machtpolitik und Idealpolitik“ (1918), „Die großen europäischen Revolutionen“ (1919), „Wohin? Probleme deutschdemokratischer Politik“ (1920). Er war wohl im Kaiserreich einige Zeit bei den Freisinnigen und zu Beginn Mitglied in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Später veröffentliche er Stellungnahmen zu aktuellen Fragestellungen in verschiedenen Hamburger, Frankfurter und Berliner Zeitungen.
Professor in Leipzig 1923-1933
Siegmund Hellmann verlor während der Inflationszeit große Teile seines Vermögens. Zudem erhielt er als außerordentlicher Professor nur ein Salär für die abgehaltenen Lehraufträge. Er war gezwungen, einen Teil seiner Bibliothek zu verkaufen, um über die Runden zu kommen. Eine Unterstützung von Seiten der Universität lehnte er aus einem Ehr- und Gerechtigkeitsgefühl heraus ab.
Ende 1923 erhielt Hellmann vom sächsischen Erziehungsministerium den Ruf an die Universität Leipzig als ordentlicher Professor. Aber Hellmann hatte in Leipzig keinen leichten Stand, da die Berufung gegen den vehementen Widerstand der historischen Fakultät stattfand. Vordergründig galt der 51jährige Hellmann als zu alt und Quantität und Qualität seiner Veröffentlichungen wurden in Zweifel gezogen. Inwieweit seine politische Einstellung oder seine jüdische Herkunft bei der Ablehnung eine Rolle spielten, lässt sich ohne weitere Forschung nicht endgültig beantworten. Das historische Institut konnte sich nicht gegen die Regierung durchsetzen, aber die Leipziger Kollegen schnitten den Neuzugang, indem Hellmann beispielsweise weniger Aufträge für Gutachten in Promotionsverfahren erhielt.
Das Naturell Hellmanns machte das alles nicht leichter. Sein Nachfolger auf Hellmanns Lehrstuhl, Hermann Heimpel, beschrieb Hellmann in einem späten Nachruf: „Streng gegen sich selbst, oft schroff gegen andere“.
In dieser Zeit um 1930 zog seine Tochter Eva für ein Jahr zu Hellmann nach Leipzig, um dort ein philosophisches Studium zu absolvieren.
Absetzung und Rückkehr nach München
Nach der Machtübernahme versetzten die Nationalsozialisten Hellmann in den Ruhestand, kürzten seine Ruhestandsbezüge auf 20 Prozent und zahlten ab 1935 gar nichts mehr. Hellmann kehrte wieder nach München zurück und zog schließlich 1936 zu seiner Schwester in die Herzogstraße 55. Nach der Reichskristallnacht kam er für kurze Zeit in das Konzentrationslager nach Dachau.
Obwohl es Juden ab September 1941 nicht mehr erlaubt war, öffentliche Bibliotheken zu besuchen, erlangte er mit einer List Zugang zur Bayerischen Staatsbibliothek. Ausnahmen galten für „privilegierte“ Juden, die einen nichtjüdischen Ehepartner hatten. Hellmann war zwar schon seit Jahren geschieden, die Bibliotheksleitung verzichtete aber auf eine genaue Kontrolle. So konnte er an seinem Lebenswerk, einer „Deutschen Geschichte“, weiterarbeiten, das aber unvollendet blieb.
Im Juli 1942 wurden Carry Brachvogel und Siegmund Hellmann nach Theresienstadt deportiert. Die Gestapo versiegelte sein Zimmer und raubte seine wertvolle Bibliothek.
Die Strapazen und menschenunwürdigen Lebensbedingungen im Ghetto Theresienstadt überlebte er nicht lange, Siegmund Hellmann starb am 20. November 1942.
Gedenken
Am 11. Juli 2024 wurde ein Erinnerungszeichen für Siegmund Hellmann an der Herzogstraße 55 enthüllt.
Text und Recherche
Eva Strauß
Quellen
Moncensia (Literaturarchiv): Konvolut Brachvogel/Hellmann.
Staatsarchiv München Pol.Dir. München 13748.
Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden.
Universitätsarchiv Leipzig, PA 0562.
Universitätsarchiv der LMU München, (UAM) O-I-75p: Promotionsakte Hellmann, Siegmund und UAM D-X-34: Akten des Akademischen Senates der Universität München.
Handelshochschule München: Bericht über das Studienjahr 1913/14.
Handelshochschule München: Vorlesungen und Übungen im Wintersemester 1913/14.
Handelshochschule München: Vorlesungen und Übungen im Wintersemester 1914/15.
Handelshochschule München: Vorlesungen und Übungen im Wintersemester 1915/16.
Internetquellen
Arolsen Archives https://collections.arolsen-archives.org/de/document/5043822 .
Münchner Neueste Nachrichten vom 17.2.1908 / 21.1.1911 gefunden auf digiPress (digitale-sammlungen.de) .
„Hellmann, Siegmund“, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 483 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/.htm .
Ludwig Maximilians Universität München (LMU), Vorlesungsverzeichnisse Sommersemester 1900 – Wintersemester 1923/24 https://epub.ub.uni-muenchen.de/view/lmu/vlverz=5F04.html .
Literatur
Thomas Breisach: Jüdische Universitätsprofessoren im Königreich Bayern, Neuried 2000.
Siegmund Hellmann: Ausgewählte Abhandlungen zur Historiographie und Geistesgeschichte des Mittelalters. Herausgegeben und eingeleitet von Helmut Beumann. Darmstadt 1961.
Siegmund Hellmann: Zur Reichsgründungsfeier. Ansprache gehalten am 19. Januar 1911 bei der von den Münchener freien Studentenschaften veranstalteten Allgemeinen akademischen Feier im Auditorium maximum der Universität. München 1911.
Judith Ritter: Die Münchner Schriftstellerin Carry Brachvogel Literatin, Salondame, Frauenrechtlerin, München 2016 (online abrufbar über einen Account bei der Bayerischen Staatsbibliothek).
Susanne Wanninger: „Herr Hitler, ich erkläre meine Bereitwilligkeit zur Mitarbeit.“ Rudolf Buttmann (1885-1947) – Politiker und Bibliothekar zwischen bürgerlicher Tradition und Nationalsozialismus. Wiesbaden 2014.