Milli Wolff
Geboren am 18. Juli 1903 in Griesheim
Deportiert am 13. März 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz
Ermordet in Auschwitz
Milli oder Minna?
Milli Wolff hieß eigentlich Minna. Am 18. Juli 1903 in Griesheim als Minna Wolff geboren, änderte sich ihr Name in München in „Milli“. Auf der Münchner Einwohnermeldekarte von 1939 ist der ursprüngliche Name durchgestrichen und mit anderer Handschrift „Milli“ darüber vermerkt. Rätselhaft bleibt auch ihre Absenderangabe „Minna, Milli Wolff“ im Januar 1939.
Familie Wolff
Minna war das zweite von vier Kindern des Kaufmanns Wilhelm Wolff und seiner Frau Zerline. Die alteingesessene und angesehene Familie Wolff besaß in mindestens dritter Generation eine Kohlenhandlung, bereits 1847 ist sie im Besitz ihres Urgroßvaters verbürgt. Minna Wolffs Vater war ein frommer und geachteter Mann. 1932 war er einer der drei Rabbis der Gemeinde. Daneben leitete er die 1823 gegründete Israelitische Bruderschaft (Chewra Kadischa). Dieser Wohltätigkeits- und Bestattungsverein unterstützte Hilfsbedürftige, sorgte für den „Minjan“ – die Einhaltung der Regel von mindestens zehn jüdischen Männern für den Gottesdienst und das Gebet – und betreute den Israelitischen Frauenverein.
Zwei Jahre vor Minna war am 9. Juni 1901 ihre Schwester Erna Beate zur Welt gekommen. Am 7. Februar 1908 wurde Regina Alice geboren und am 9. November 1910 ihr Bruder Ludwig Eliezer.
Die Fotografie aus dem Jahr 1911 zeigt von links:
Regina Alice, Minna trägt einen Hut mit breitem Rand, auf Erna Beates Schoß sitzt der kleine Ludwig Eliezer. Daneben die Cousinen Poldy und Cookie.
Schule und Beruf
Alle vier Geschwister besuchten die Volksschule, eine weiterführende Schule gab es in Griesheim nicht. Auch die Arbeitsmöglichkeiten in dem kleinen Ort – Griesheim zählte in den 1930er Jahren etwa 8.000 Einwohner – waren sehr begrenzt. Das gleiche galt für die Berufswahl. Mädchen konnten sich lediglich zwischen einer Arbeit als Näherin, Büglerin, Schneiderin, Verkäuferin oder Hausangestellte entscheiden. Für Minnas sieben Jahre jüngeren Bruder Ludwig stellte sich diese Frage nicht, er würde in nächster Generation die Kohlenhandlung übernehmen.
Gewalttätige Umtriebe der SA
Schon vor 1933 waren die Griesheimer Juden wegen der Umtriebe der SA im Ort zunehmend in Sorge. Auch die vorwiegend sozialistisch eingestellten nichtjüdischen Bürger begannen, sich dagegen zu wehren. Am 12. Februar 1933 demonstrierte das sozialdemokratische Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold im Ort. Drei Tage darauf zogen Anhänger von SPD und KPD, Parolen gegen Hitler skandierend, durch Griesheim. Der beschwörende Ausruf bei der Schlusskundgebung im Schulhof, „In Griesheim marschiert keine SA mehr!“, sollte sich nicht erfüllen. Bereits am 26. Februar marschierte die SA mit Verstärkung aus anderen Orten auf, woraufhin es mit protestierenden Griesheimern zu massiven körperlichen Auseinandersetzungen kam.
Am 4. März 1933, dem Vortag der Reichstagswahl, versammelte sich die Griesheimer SA, verstärkt durch 60 Darmstädter „Kameraden“, im zum „Alarmlokal“ bestimmten Gasthaus Darmstädter Hof. Prompt stürmte das etwa 100 Mann starke Rollkommando auf die Meldung eines „Nieder mit Hitler“-Transparents los. Vor der Wirtschaft Zum Adler kam es zu einem Zusammenstoß mit protestierenden Griesheimern, bei dem auch Schüsse fielen. Ein Schuss traf den SA-Anführer und verwundete ihn schwer. Am Ende des Scharmützels konnten alle Griesheimer NS-Gegner unverletzt entkommen.
Machtübernahme der Nationalsozialisten
Nach der gewonnenen Wahl gingen die Nationalsozialisten sofort brutal gegen Juden vor. Ein besonders schlimmer Vorfall löste Entsetzen nicht nur bei den jüdischen Griesheimern aus: NSDAP-Mitglieder bestellten einen jüdischen Bürger ins Rathaus ein. Dort schlugen sie ihn mit Gummiknüppeln und Stahlruten so brutal, dass „sein Gesicht beinahe nicht wiederzuerkennen“ und „sein Rücken eine einzige blutige Masse“ war. Entsetzt über diese brutale Gewalttat wollte ihn der jüdische Arzt Henry Buxbaum mit aufgeplatztem Rücken auf die Straße schicken – die Griesheimer sollten auf drastische Weise sehen, wozu die Nazis in der Lage sind. Aus Angst wagte sein Patient diesen Schritt verständlicherweise jedoch nicht.
Diese Gewalttat dürfte bei den 84 Jüdinnen und Juden in Griesheim eine Schockwelle ausgelöst haben. Vielleicht war dieser schreckliche Vorfall einer der Gründe, weshalb Minna Wolffs Schwester Regina im Oktober 1933 nach München ging.
Der damalige Bürgermeister, ein Landwirt, galt als „braver Mann“, der die Gemeinde neutral, also weder gegen noch für die Juden verwaltete. Der NSDAP gefiel dies offenbar nicht, denn wiederholt saßen bei den Sitzungen des Gemeinderats Beobachter aus ihren Reihen mit im Saal. Bald stellte die Stadtverwaltung öffentliche Aufträge an die Kohlenhandlung Wolff ein. Zwar wurden Kohlen noch von Privatkunden gekauft, doch konnte dies die Umsatzeinbußen durch den Wegfall der kommunalen Aufträge nicht ausgleichen. Bis dahin hatte Minnas Vater so gut gewirtschaftet, dass er 1912 ein großes und dekoratives Mietshaus in der Wilhelm-Leuschner-Straße 19 hatte kaufen können. In einer der Wohnungen lebte und arbeitete der Arzt Dr. Josef Heilbronn, 1930 löste ihn Dr. Henry Buxbaum ab. In die anderen Wohnungen zogen Verwandte der Wolffs ein. Auch Minna Wolff zog später dort ein.
Keine Zukunft in Deutschland
Nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze war für die Familie klar, dass es in Griesheim keine Zukunft für sie gab. Im Oktober 1936 emigrierte Minna Wolffs Bruder Ludwig mit seiner späteren Ehefrau Alma Friesem nach Kapstadt. Nachdem ihre ältere Schwester Erna schon 1921 nach Aschaffenburg gezogen war, blieb nun Minna für mehr als ein Jahr als einzige der Geschwister bei den Eltern in Griesheim. Wilhelm und Zerline Wolff waren gesundheitlich angeschlagen. Im April 1938 gaben sie die nun vollständig unrentabel gewordene Kohlenhandlung auf. Im November emigrierten sie nach Südafrika zu ihrem Sohn Ludwig.
Von Griesheim nach München
Am 29. November 1938 verließ auch Minna Wolff ihre Heimatstadt und fuhr nach München. Von da an trat sie nur noch mit dem Vornamen „Milli“ in Erscheinung.
Seit 15. November 1938 wohnte ihre Schwester Regina bei dem Schuhmacher und Zimmervermieter Ruben Leers und dessen Frau Maria am Viktualienmarkt 13. Er nahm nun auch Milli Wolff auf.
Emigrationsversuch
Vermutlich angeregt durch ihre Schwester, die bereits ihre Emigration in die USA betrieb, beantragte Milli am 10. Januar 1939 die Ausstellung eines Reisepasses „zwecks Stellungssuche in Holland“. Sie fügte hinzu: „Im Ausland stehen mir keine Zahlungsmittel zur Verfügung.“ Die kurz darauf erfolgte Vorladung zur Polizeidirektion ging mit dem Vermerk „unbekannt verzogen“ an die Behörde zurück. Ohne sich ab- oder anzumelden hatte Milli Wolff Quartier in einer Wohnung am „Rindermarkt 2, Mittelbau, III. Stock“ genommen. Darauf weist lediglich die Absenderadresse ihrer schriftlichen Versicherung von Mitte Januar hin, von nun an den Zusatznamen „Sarah“ zu tragen.
Im selben Monat schickte sie eine Fotografie nach Südafrika mit handschriftlichen Grüßen auf der Rückseite:
Dauerzustand Wohnungssuche
Auch am Rindermarkt konnte sie nur kurze Zeit bleiben. Ab 1. Februar 1939 war sie in der Lipschütz’schen Anstalt, dem Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in der Mathildenstraße 9, untergebracht. Am 28. Februar 1939 verließ sie das Altenheim wieder. Danach verlieren sich ihre Spuren für vier Monate.
Erst am 1. Juli 1939 war sie wieder angemeldet. Für drei Monate lebte sie bei dem ehemaligen Fabrikanten Georg Phillipsborn in der Ungererstraße 42. Bald darauf war sie jedoch erneut auf Wohnungssuche. Der Grund dafür könnte die Auswanderung Georg Phillipsborns nach Utrecht in den Niederlanden gewesen sein.
Wieder verbrachte sie zwei Nächte an einem unbekannten Ort, bis sie am 7. Oktober 1939 eine Unterkunft in der Rumfordstraße 39 bei Julie Hirsch erhielt. Sie blieb nur bis 30. Oktober. Juli Hirsch war die Wohnung gekündigt worden, sie musste in das „Judenhaus“ in der Thierschstraße 7 umziehen.
Milli Wolff fand zum 1. November 1939 ein Zimmer am Rotkreuzplatz 2 im Haus von Paul Schottländer, der hier bis April 1938 ein großes Kaufhaus geführt hatte. Auch hier konnte sie nur wenige Monate bleiben, dann mussten jüdische Mieter das Haus verlassen – ebenso die ehemaligen Besitzer Paul und Anna Schottländer.
Am 17. April 1940 kam sie in der Blumenstraße 48 bei dem ehemaligen Uhrmacher Berisch Diamand unter, wo sie mehr als ein Jahr wohnte. Dann starb der 68-Jährige im Mai 1941 - wieder musste sie bei der Israelitischen Kultusgemeinde um eine Unterkunft nachfragen.
Die jüdische Gemeinde bemühte sich nach Kräften, die Menschen unterzubringen – und sei es auf engstem Raum. Schließlich war die Kultusgemeinde gezwungen, ihre Einrichtungen für jüdische Münchner zu öffnen, wenn sich anderweitig kein Platz fand. Wie schon einmal 1939 stellte ihr das Israelitische Altenheim in der Mathildenstraße auch diesesmal ein Bett zur Verfügung.
Erneuter Emigrationsversuch
Am 15. August 1939, eine Woche bevor ihre Schwester Regina nach London emigrierte, stellte Milli Wolff nochmals einen Antrag „wegen beabsichtigter Auswanderung nach Südafrika und vorherigem Aufenthalt wahrscheinlich in England“. Am 30. August 1939 hielt sie ihren Reisepass in Händen. Hinweise auf weitere Emigrationsbemühungen, wie etwa die Beschaffung der dafür notwendigen Dokumente, sind in den Akten nicht zu finden.
Am 23. Oktober 1941 erließ das NS-Regime ein generelles Ausreiseverbot für jüdische Bürger. Damit war die Flucht nach Südafrika war endgültig versperrt.
In der „Heimanlage für Juden“
Neun Monate verbrachte Milli Wolff im Altenheim, dann wies man sie zum 2. März 1942 in das verharmlosend „Heimanlage für Juden“ genannte Internierungslager in der Clemens-August-Straße 9 in Berg am Laim ein. Von dort aus musste sie als Hilfsarbeiterin in der Telefonfabrik Kammerer am Tassiloplatz Zwangsarbeit leisten. Der Wochenverdienst belief sich auf 18 Reichsmark. Für ihren Zwangsaufenthalt in dem Lager berechnete man ihr 18 Reichsmark Miete pro Monat. Da Juden seit Herbst 1941 die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verboten war, musste sie die etwa vier Kilometer von und zur Arbeitsstelle zu Fuß zurücklegen.
Milli Wolff war kaum im Lager angekommen, als Gerüchte über Deportationen für Unruhe sorgten. Tatsächlich wurden am 1. April 1942 75 Menschen ins Sammellager nach Milbertshofen gebracht und drei Tage später nach Piaski deportiert. Bis August musste sie mehr als zwanzig Mal die Abholung von Lagerinsassen miterleben – und die damit verbundene Angst, selbst auf der Deportationsliste zu stehen.
Deportation nach Auschwitz
Einige Monate vergingen, dann setzten die Deportationen wieder ein. Am 13. März 1943, einem Samstag, verschleppte die Gestapo die 40-jährige Milli Wolff mit weiteren 219 Menschen ins Konzentrationslager Auschwitz. Es war der erste Transport, der von München direkt nach Auschwitz fuhr. Minna Milli Wolff kam nicht mehr zurück. Ihr Todestag ist unbekannt.
Seit September 2016 erinnern in der Pfungstädter Straße 21 in Griesheim fünf Stolpersteine an Minna Wolff, ihre Eltern Wilhelm und Zerline sowie ihren Bruder Ludwig und ihre Schwägerin Alma.
Schicksal der Familienangehörigen
Minnas Bruder Ludwig Eliezer Wolff und seine Braut Alma Friesem verließen Deutschland 1936 mit dem Dampfer „Stuttgart“. Da sie unverheiratet in Südafrika nicht von Bord gehen durften, kam bei einem Zwischenstopp in Las Palmas der deutsche Konsul an Bord, um sie zu trauen – die Heiratsurkunde „ziert“ deshalb ein Hakenkreuz. In der Synagoge in Kapstadt holten sie dann die Hochzeit nach und gründeten schließlich hier eine eigene Familie. Bei ihnen lebten auch die Eltern Wilhelm und Zerline Wolff. Ludwig Wolff starb am 18. Juni 1990.
Ihre ältere Schwester Erna Beate heiratete 1921 den Kaufmann Ludwig Löwenthal und zog mit ihm nach Aschaffenburg. Hier wurden ihre Kinder Ruth und Joachim geboren. Ab 1933 betrieb sie eine Kleinhandlung mit Manufakturwaren. 1936 emigrierte Ludwig Löwenthal nach Johannesburg, Erna Beate folgte ihm 1937 mit den beiden Kindern.
Ihre Schwester Regina Alice Wolff emigrierte 1939 über England nach Johannesburg.
Text und Recherche
Ingrid Reuter
Quellen
Staatsarchiv München, Pol.Dir. 15448.
Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden, EWK 38.
Stadtarchiv Griesheim, Personendaten.
Gedenkbuch der Karlsruher Juden.
Mailverkehr mit Heike Jakowski, Februar 2022.
Mailverkehr mit Rosalie Rogow (Frühjahr 2022), Minna Wolffs Nichte.
Literatur
Jakowski Heike, Jüdische Lebensgeschichten aus Griesheim 1658-1940, Darmstadt 2018.
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