Hugo Rothschild
Geboren am 15. Februar 1875 in München
Ermordet am 13. Februar 1945 im Konzentrationslager Dachau
Früher Tod des Vaters und Kindheit in Baiersdorf
Die Freude bei Gustav und Bertha Rothschild dürfte groß gewesen sein, als am 15. Februar 1875 ihr Sohn Hugo zur Welt kam. Niemand konnte ahnen, dass nur wenige Wochen später ein Unglück über die junge Familie hereinbrechen würde. Hugo Rothschilds Vater stammte aus Goßmannsdorf in Unterfranken, wo er um 1848 geboren wurde. Er war Privatlehrer und unterrichtete Fremdsprachen. Wann er Bertha Fleischmann heiratete und sich in München in der Weinstraße 8 niederließ, geht aus den Quellen nicht hervor. Über Hugo Rothschilds Mutter ist außer ihrem Namen nichts bekannt.
Als Hugo zwei Monate alt war, musste sich sein Vater einer Operation unterziehen. Die Anästhesie steckte damals noch in den Kinderschuhen. Als Betäubungsmittel standen Lachgas, Äther oder Chloroform zur Verfügung. Mit welchem Mittel der Arzt Gustav Rothschild narkotisierte, ist nicht bekannt. Er starb während der Narkose an „Herzlähmung“. Der Tod des 27-Jährigen war so aufsehenerregend, dass die Münchner Tageszeitung „Bayerischer Kurier“ darüber berichtete: „Selbstverständlich unterliegt der traurige Vorfall näherer Untersuchung.“
Nach dem Tod seines Vaters wuchs Hugo Rothschild bei dem Viehhändler Keiner in Baiersdorf im Landkreis Erlangen-Höchstadt auf. Die Gründe dafür sind unklar. Offen ist auch, ob seine Mutter Bertha in München blieb oder mit ihm nach Franken zog. Jedenfalls existiert keine polizeiliche Abmeldung in München und keine Anmeldung in Baiersdorf oder Erlangen. Nach vier Jahren auf der Grundschule in Baiersdorf besuchte Hugo Rothschild das Fridericianum, ein humanistisches Gymnasium in Erlangen.
Studentenleben und erste Berufsjahre
Nach seinem Abitur begann Hugo Rothschild mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und setzte es später in München fort. Hier trat er der Studentenverbindung Thuringia bei. Die Mitglieder trugen Band und Studentenmütze in den Farben violett-orange-weiß, hielten Mensuren ab und waren stolz auf ihre „Schmisse“. Hugo Rothschild blieb der Burschenschaft, wie die meisten Mitglieder, lebenslang verbunden.
1903 erhielt Hugo Rothschild die Zulassung als Rechtsanwalt zu den Münchner Landgerichten I und II sowie zum Oberlandesgericht. Über seine ersten Berufsjahre geht aus den Quellen nichts hervor und so ist unbekannt, in welcher Kanzlei Hugo Rothschild zunächst arbeitete. 1925 schloss er sich, mittlerweile zum Justizrat ernannt, in einer Sozietät mit dem jüdischen Anwalt Otto Feldheim und dem nichtjüdischen Anwalt Anton Doll zusammen. Die in der Müllerstraße 54 ansässige Kanzlei beschäftigte einen Buchhalter und eine bis zwei Stenotypistinnen.
Familiengründung
Am 30. April 1910 heiratete Hugo Rothschild die zwölf Jahre jüngere Katholikin Ida Emma Boltshauser und bezog mit ihr eine Wohnung in der Aldringenstraße 11. Neun Monate später kam am 3. Februar 1911 Tochter Erna zur Welt, am 13. Dezember 1916 folgte Sohn Fritz. Beide Kinder wurden katholisch getauft.
Wie viele junge Männer seiner Generation, die studierten und eine berufliche Karriere anstrebten, leistete auch Hugo Rothschild seinen Militärdienst ab. 1911 erhielt er die Landwehr-Auszeichnung 2. Klasse und stieg in den Rang eines Oberleutnants auf.
Im Ersten Weltkrieg diente Hugo Rothschild zunächst als Hauptmann des Infanterie-Regiments VI. Seit Dezember 1916 war er Kriegsgerichtsrat in der Mobilen Etappenkommandantur. Im selben Jahr erhielt er das König-Ludwig-Kreuz „in dankbarer Anerkennung für Heimatverdienste während der Kriegszeit“. Später bekam er das Eiserne Kreuz 2. Klasse.
„Die Sorge für die Kinder steht dem Vater zu“
Nach elf Ehejahren trennten sich die Wege von Hugo und Ida Rothschild. Am 30. Mai 1921 wurde die Ehe „aus Verschulden der Ehefrau“ geschieden. Zwei Monate später zog Ida Rothschild aus der gemeinsamen Wohnung aus. Es folgte offenbar eine Auseinandersetzung um das Sorgerecht für die zehnjährige Erna und den vierjährigen Fritz. Am 12. Oktober 1921 entschied das Amtsgericht München: „Die Sorge für die Kinder steht dem Vater zu.“ Die Kinder blieben bei Hugo Rothschild. Die 25-jährige Henriette (Jette) Raithel, die vermutlich schon seit Längerem als Haushaltshilfe bei den Rothschilds angestellt war, kümmerte sich nun auch liebevoll um die 10- und 5-jährigen Kinder. Erna und Fritz akzeptierten sie problemlos als Ersatzmutter.
Um seiner Tochter Erna eine gute Ausbildung zu sichern, meldete Hugo Rothschild sie im Institut Frauenwörth an. Dort widmeten sich seit 1837 Benediktinerinnen der Mädchenerziehung. Erna war mindestens zwischen 1925 und 1928 auf der Fraueninsel im Chiemsee. 1932 heiratete sie den Wachtmeister Stephan Lauchner und brachte Heinz zur Welt, Hugo Rothschilds einzigen Enkel. Ob auch Fritz Rothschild ein Internat besuchte, ist unklar.
Am 30. Januar 1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht
Unmittelbar danach gingen die neuen Machthaber rigoros gegen Jüdinnen und Juden sowie gegen Gegnerinnen und Gegner des Regimes vor. NSDAP-kritische Anwältinnen und Anwälte wurden misshandelt und verhaftet. Am 1. April 1933 hinderten SS- und SA-Angehörige Passanten am Betreten von Kaufhäusern, Arztpraxen und Anwaltskanzleien. Ob Hugo Rothschilds Kanzlei davon betroffen war, ist unbekannt. Am 7. April 1933 entzog ein neues Gesetz jüdischen Anwältinnen und Anwälten ihre Zulassung. Ausnahmen galten nur für Personen, die ihre Zulassung schon vor 1914 erhalten hatten, und für Kriegsteilnehmer – und damit auch für Hugo Rothschild. Wenn er auch seine Zulassung behielt, so litt er doch stark darunter, dass immer mehr Mandantinnen und Mandanten der Kanzlei fernblieben. Denn obwohl er bereits im April 1931 aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten war, galt Hugo Rothschild in der NS-Rassenideologie als Jude. Unklar ist, ob der Anwalt Anton Doll zunächst noch mit Hugo Rothschild und Otto Feldheim zusammenarbeitete. Ab 1934 waren Sozietäten zwischen jüdischen und nichtjüdischen Anwältinnen und Anwälten verboten.
Umzug in die Johann-von-Werth-Straße 4
Nur ein gutes Jahr, nachdem er im März 1933 in die Stupfstraße 19 gezogen war, wechselte Hugo Rothschild am 24. Mai 1934 erneut die Wohnung und zog in den dritten Stock rechts der Johann-von-Werth-Straße 4. Die Kanzlei befand sich weiterhin in der Müllerstraße. Als nach dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ die Einnahmen ab 1935 massiv einbrachen, zeigte sich die Hilfsbereitschaft der Burschenschaft Thuringia, die sich nach dem Krieg dem neu gegründeten, freiheitlich gesinnten Burschenbunds-Convent (BC) angegliedert hatte. Bis mindestens Ende 1938 erhielt Hugo Rothschild eine monatliche Unterstützung aus dem Fond des „Philisterverbandes des Burschenbundes Thuringia beim BC München“.
Der Zusammenhalt der Thuringia war eng. Dies zeigen unter anderem die Karten, die die Burschenschaft bei jedem Treffen an die Abwesenden verschickte.
Die „Kristallnacht“ 1938 und ihre Folgen
Im Laufe des Pogroms am 9. November 1938 verhaftete die Gestapo auch Hugo Rothschild. Der Rechtsanwalt Fritz Neuland war Augenzeuge. Er selbst war von Freunden gewarnt worden, mied seine Wohnung und ging stattdessen mit seiner sechsjährigen Tochter Charlotte (verheiratete Knobloch, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern) durch die Straßen. Dabei kam er auch an der Kanzlei seines guten Freundes Hugo Rothschild vorbei. Er sah, wie dieser mit erheblichen Kopfverletzungen aus dem Haus geschleift und auf einen Wagen gezerrt wurde. Anschließend wurde Hugo Rothschild in das Konzentrationslager Dachau gebracht.
Am 1. Dezember 1938, dem Tag seiner Entlassung aus dem Lager, entzog die Rechtsanwaltskammer jüdischen Anwälten die Zulassung. Am Tag darauf genehmigte der Oberlandesgerichtspräsident im Einvernehmen mit dem Präsidenten der Rechtsanwaltskammer Hugo Rothschild, „widerruflich und befristet bis 31.12.38“ als „Konsulent“ weiterarbeiten zu dürfen, also nur für jüdische Mandantinnen und Mandanten. In den folgenden Monaten wurde diese Zulassung immer wieder verlängert. Sein Sozius Otto Feldheim, der ebenfalls im November 1938 verhaftet und nach Dachau gebracht worden war, kam erst am 6. Dezember 1938 aus dem Konzentrationslager frei und besuchte anschließend in Vorbereitung auf seine Emigration die „Jüdischen Koch- und Konditorei-Kurse Albert Schwarz“.
Für Hugo Rothschild gab es viel zu tun. Seine Klientinnen und Klienten suchten nach Wegen, um Deutschland verlassen zu können, und brauchten dabei seine Hilfe. Die Vergütung für seine unermüdliche Tätigkeit war jedoch gering. „Konsulenten“ mussten je nach Einkommen zwischen 30 und 70 Prozent ihrer Einnahmen an eine von der Rechtsanwaltskammer eingerichtete „Ausgleichsstelle“ abführen.
Fritz Rothschild: Fürs Vaterland gestorben?
Nur wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs marschierte Hugo Rothschilds Sohn Fritz mit seiner Kompanie in Polen ein. Als sogenannter „Mischling 1. Grades“ war er zu diesem Zeitpunkt noch wehrpflichtig. Er hatte sich vermutlich nach Abschluss einer kaufmännischen Ausbildung im April 1937 zum Reichsarbeitsdienst (RAD) gemeldet, einem obligatorischen paramilitärisch ausgerichteten „Ehrendienst am Deutschen Volk“. Fritz Rothschild war einer Kolonne von Erntehelfern im Raum Rosenheim zugeteilt und dort in der Pionierkaserne untergebracht. Ab 5. November 1937 war er Rekrut bei den Gebirgsjägern in Mittenwald. Im August 1939 wurden die Gebirgsjägerdivisionen in der Slowakei in Stellung gebracht, darunter auch Fritz Rothschilds Kompanie. Als Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel, schrieb er nach Hause: „Fahre morgen früh um 6 h ab.“ In der einen Tag später verfassten Karte heißt es: „Vor 2 Stunden passierte ich München. Im Geheimen hoffte ich Dich, lieber Vater, am Bahnhof zu sehen. Ich werde Euch so bald wie möglich Nachricht zukommen lassen.“ Doch dazu kam es nicht mehr. Am 4. September 1939 marschierten die Gebirgsjäger in Südpolen ein. Fritz Rothschilds Regiment geriet vier Tage später bei Dukla in ein schweres Gefecht. Für den 22-jährigen Fritz Rothschild war es das letzte Gefecht, er fiel am 9. September 1939. Die Nachricht von seinem Tod löste in seiner Familie Entsetzen und große Trauer aus.
„Verteidigung“ einer KZ-Insassin
Im Dezember 1940 erhielt Hugo Rothschild die Anfrage, die seit neun Monaten wegen eines „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ als „politische Gefangene“ im Konzentrationslager Ravensbrück interniert Sylvia Klar zu verteidigen. Dies war jedoch nicht Gegenstand der neuerlichen Anklage. Der Staatsanwalt hatte ein weiteres Verfahren gegen sie in Gang gesetzt und beschuldigte sie nun zusätzlich des „fortgesetzten Vergehens gegen das Devisengesetz“. Sylvia Klar „Vergehen“ bestand darin, über den mit ihr befreundeten englischen Konsul emigrierten Freunden in England Wertgegenstände bringen zu lassen. Hugo Rothschild kannte sie und ihren 1938 im Konzentrationslager Dachau ermordeten Mann Max Klar – 15 Jahre lang hatten sie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gewohnt – und übernahm ihre Verteidigung.
In der Woche vor dem für den 4. März 1941 anberaumten Termin am Landgericht München I wurde Sylvia Klar aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach München gebracht. Hugo Rothschild besuchte sie im Gefängnis Am Neudeck. Er wusste, dass er nicht viel für sie würde tun können, da seine Möglichkeiten als „Konsulent“ stark beschränkt waren. Tatsächlich gelang es ihm, die vom Staatsanwalt geforderten sechs Monate Gefängnis auf vier Monate und die Geldstrafe von 2.000 auf 1.000 Reichsmark zu reduzieren. Am 21. April wurde Sylvia Klar nach Ravensbrück zurückgebracht. Wo sie ihre Gefängnisstrafe absitzen musste, ist unbekannt. Frei kam sie auch danach nicht, denn die KZ-Haft wegen der schwerwiegenden „Heimtücke“ blieb nach wie vor bestehen.
Familienbande
Im Mai 1942 nahm Hugo Rothschild seine Tochter Erna und seinen siebenjährigen Enkel Heinz bei sich auf. Erna Lauchner hatte mit schweren finanziellen Problemen zu kämpfen, seit sich Stephan Lauchner zwei Jahre zuvor von ihr hatte scheiden lassen. Er war Soldat der Wehrmacht, eine „halbjüdische“ Ehefrau stand einer Offizierslaufbahn im Weg. Erna Lauchner musste die Dienstwohnung in der Funkerkaserne verlassen, zudem bekam sie nur Unterhalt für ihren Sohn, nicht jedoch für sich selbst. Weil sie gemäß der NS-Rassenideologie als „Mischling ersten Grades“ galt, fand sie keine geeignete Stellung, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und hielt sich mehr schlecht als recht über Wasser. So dekorierte sie zunächst die Schaufenster der Firma Ehrlicher in der Neuhauser Straße und arbeitete ab 1941 als „Buffethilfsfräulein“ in Freiburg. Dafür musste sie ihren Sohn in Pflege geben, sodass von ihrem ohnehin geringen Verdienst nichts übrigblieb. Also kehrte sie nach München zurück. „Ich bin mit meinem Jungen wieder zu meinem Vater gezogen. Mein Vater war von diesem Zeitpunkt an (nach meiner Scheidung) mein Ernährer“, berichtete sie 1949 der Landesentschädigungskammer. Jette Raithel, Ernas „Ersatzmutter“ und die gute Seele der Familie, wurde nun zur „Ersatzoma“ für ihren Sohn.
Für den kleinen Heinz war Hugo Rothschild der beste aller Großväter. Entgegen der damals üblichen strengen Erziehung war er „ein milder, fast zu milder Opa“, wie Heinz Lauchner sich später erinnerte. Erna Lauchner dagegen war eine strenge Mutter. Als ihr neunjähriger Sohn eines Tages nach dem Frühlingsfest im Nymphenburger Park spätabends nicht nach Haus kam, ging sie ihn suchen – und fand ihn spielend und zeitvergessen am Nymphenburger Kanal, wo er Papierschiffchen mit einer Kerze „an Deck“ im Wasser schwimmen ließ. Auf dem Nachhauseweg setzte es einige Ohrfeigen. Zu Hause rügte Hugo Rothschild seine Tochter: „Kinder schlägt man nicht, egal, was sie gemacht haben!“ Er selbst bestrafte Heinz kein einziges Mal, selbst als dieser das Uhrwerk seiner „goldenen“ Tischuhr ruinierte.
Gefährliche Hilfe für eine untergetauchte Jüdin
Ab 1944 half Hugo Rothschild erneut einer alten Bekannten. Edith Schülein war im März 1943 aus dem Sammellager in Berg am Laim nach Berlin geflohen und hatte sich dort versteckt. Weil sie wegen einer Jahre zurückliegenden Tuberkuloseerkrankung Beschwerden hatte, kehrte die 46-Jährige nach München zurück und ließ sich unter dem Namen Edith Berger als Patientin im Schwabinger Krankenhaus aufnehmen. Hugo Rothschild unterstützte seine jüdische Bekannte mit Geld, Lebensmitteln und Lebensmittelmarken. Zur Übergabe traf er sich ein- bis zweimal in der Woche mit ihr im Krankenhaus. Das war äußerst gefährlich, zumal Hugo Rothschild – vermutlich ohne es zu ahnen – seit 1939 unter Beobachtung der Gestapo stand.
Als Edith Schülein am 18. Januar 1945 Besorgungen in der Stadt erledigen musste, begegnete sie Theodor Koronczyk, dem damaligen Bezirksleiter München der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Wie sie 1945 im Spruchkammerverfahren gegen ihn aussagte, sprach Theodor Koronczyk Edith Schülein mit ihrem richtigen Namen an: „Er zwang mich, mit ihm die nächste Telefonzelle aufzusuchen und rief in meiner Gegenwart die Gestapo an.“ In Begleitung von Theodor Koronczyk und eines weiteren „Herrn“ musste Edith Schülein ins Krankenhaus zurückgehen. Dort entpuppte sich der „Herr“ als Gestapobeamter Gassner. Als Hugo Rothschild einen Tag später zur vereinbarten Zeit ins Krankenhaus kam, um – wie Erna Lauchner 1947 aussagte – Edith Schülein „etwas Wurst und Semmeln“ zu bringen, wartete er vergeblich auf sie. Allen Mut zusammennehmend suchte er ihr Krankenzimmer auf. Dort gab ihm eine Patientin die äußerst beunruhigende Auskunft, Edith Schülein sei „heute früh weggekommen“.
Denunziation und Ermordung
Die Gestapo verhörte Edith Schülein auf brutale Art und Weise. „Trotz der Misshandlungen (Schläge ins Gesicht)“ bestritt sie, dass Hugo Rothschild ihr geholfen habe, und betonte vielmehr, „er [habe] jede Hilfe abgelehnt, weil er viel zu ängstlich“ sei. Dennoch erhielt Hugo Rothschild eine Vorladung zur Gestapo in die Dietlindenstraße. „Mein Vater versuchte mehrfach Herrn Koronczyk in seiner Wohnung zu erreichen, um von diesem zu erfahren, aus welchem Grund er vorgeladen sei“, berichtete Erna Lauchner später. Doch alle Versuche waren vergeblich. Am Vormittag des 31. Januar 1945 ging Hugo Rothschild zu dem Termin bei der Gestapo. „Von dieser Vernehmung kam mein Vater nicht mehr zurück,“ gab Erna Lauchner 1947 zu Protokoll. „Am Nachmittag des gleichen Tages erschienen zwei Beamte der Gestapo in unserer Wohnung zur Vornahme einer Haussuchung.“ Dabei stahl einer der Beamten Hugo Rothschilds goldene Taschenuhr mit Springdeckel. Am Tag nach der Verhaftung brachte die Gestapo ihn ins Konzentrationslager Dachau.
Nach der Verhaftung ihres Vaters nahm Erna Lauchner mit Theodor Koronczyk Kontakt auf. Dieser sagte ihr, er habe bei der Gestapo erreichen können, dass Hugo Rothschild nicht wie geplant ins Konzentrationslager Buchenwald überstellt werde, sondern ins Ghetto Theresienstadt. Auch dürfe sie ihren Vater „am Tag des Abtransportes noch einmal sehen und allein sprechen“, so Erna Lauchner später. Bei dieser Gelegenheit könne sie ihm „auch den Koffer mit Wäsche und Verpflegung mitbringen“. Doch nichts davon trat ein. Erna Lauchner sah ihren Vater nicht wieder.
Hugo Rothschild wurde im Konzentrationslager Dachau ermordet. Die Todesumstände sind unklar. Nach dem offiziellen Totenbuch des Lagers und laut Totenschein starb er am 13. Februar 1945 im Außenlager Karlsfeld an einer „Allgemeininfektion“. Das von den Schreibern des Krankenreviers illegal geführte Reviertotenbuch verzeichnet als Todesdatum jedoch den 12. Februar 1945 und als Todesort Baracke 9, Stube 2, im Hauptlager Dachau. In dieser Baracke waren die Tuberkulosekranken untergebracht.
Schicksal der Familienangehörigen
Erna Lauchner
Erst nach Kriegsende erfuhr Erna Lauchner – vermutlich von Edith Schülein –, dass wahrscheinlich Theodor Koronczyk ihren Vater denunziert hatte, und beteiligte sich an einer Anzeige gegen ihn. Zusammen mit ihrem Sohn Heinz und Jette Raithel wohnte sie noch viele Jahre in der Johann-von-Werth-Straße. Sie starb 1975 in München.
Heinz Lauchner
Hugo Rothschilds Enkel lernte das Handwerk eines Möbelschreiners und gründete eine eigene Familie. Er war leidenschaftlicher Schreiner und stellte neben seiner Arbeit mit Vorliebe Weihnachtskrippen her. Viele Jahre bastelte er im Schloss Blutenburg in Obermenzing mit Kindern Krippen. Dass es nicht nur ihm eine große Freude war, sondern auch den Kindern, lässt sich an den vielen Briefen und Karten ablesen, die sie ihm schrieben.
Henriette (Jette) Raithel
Die Haushälterin blieb auch nach Kriegsende bei Erna Lauchner wohnen, für die sie ihr Leben lang wie eine Mutter war. Die beiden Frauen teilten sich zu gleichen Teilen Hugo Rothschilds Erbe.
Weitere Schicksale
Sylvia Klar
Die Pazifistin war einst Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft. Ende Mai/Anfang Juni 1942 wurde sie vom Konzentrationslager Ravensbrück in die Tötungsanstalt Bernburg überführt und dort ermordet. Für sie und ihren Mann Dr. Max Klar wurde 2019 ein Erinnerungszeichen in der Jutastraße 24 angebracht.
Edith Schülein
Die Gestapo deportierte sie ins Ghetto Theresienstadt. Edith Schülein überlebte schwerkrank. 1962 starb sie an den Folgen der Tuberkulose.
Theodor Koronczyk
Ob Theodor Koronczyk Hugo Rothschild und Edith Schülein verraten hatte, konnte nie eindeutig bewiesen werden. 1947 fand ein Prozess gegen ihn statt, bei dem auch Edith Schülein und Erna Lauchner aussagten. Dabei gab Erna Lauchner zu Protokoll, dass sie Theodor Koronczyk für „mittelbar schuldig“ am Tod ihres Vaters hielt. Wegen widersprüchlicher Aussagen mehrerer Zeugen ließ das Gericht den Vorwurf der Denunziation jedoch fallen.
Am 24. Okober 2022 wurde am ehemaligen Wohnsitz von Hugo Rothschild in der Johann-von-Werth-Straße 4 im Beisein seines Enkels ein Erinnerungszeichen übergeben.
Text und Recherche
Ingrid Reuther
Quellen
Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 31134, Abt. IV OP 10567.
Stadtarchiv München, Familienbogen, RAK-0189, Erinnerungszeichen Sylvia Klar.
Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden.
Staatsarchiv München, WB I N5566, OFD 6868, Spruchkammerakte K 959.
Archiv der Gedenkstätte Dachau, Haftbuch.
Arolsen Archives, Sterbeurkunde.
Münchner Amtsblatt 1875.
Bayerischer Kurier vom 17. April 1875.
Gespräche mit Heinz Lauchner, Enkel von Hugo Rothschild, im Frühjahr und Sommer 2022.
Literatur
Schrafstetter Susanna, Flucht und Versteck, Göttingen 2015, S. 68f. und S 250f.
Weber Reinhard, Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern, München 2006
Wetzel Juliane, Karriere nach der Rettung - Charlotte Knoblochs Weg zur Vizepräsidentin der Juden in Deutschland, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Überleben im Dritten Reich: Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003, S. 301-311, hier: S. 304.