Das Andenken lebendig machen
Nancy Freund-Heller erforscht ihre Familiengeschichte und möchte Brücken bauen. Sie initiierte sieben Erinnerungszeichen für ihre Angehörigen in München, die im Mai übergeben wurden.
Flucht und Neubeginn
Als ihr Großvater Adolf Steinberger, Vorsteher der jüdischen Gemeinde im hessischen Alsfeld und Besitzer einer Bekleidungsfabrik, entschied, im Jahr 1933 seine Familie in Sicherheit zu bringen, hatte er längst eine Vorahnung, wozu die Nazi-Schergen imstande waren. Die Steinbergers flüchteten ins sichere Ausland, entschieden sich für Haifa im damaligen Palästina. Nancys Mutter Irmgard wanderte später in die USA aus, der Rest der Familie blieb in Israel.
Die Familie ihres Vaters William (vormals Wilhelm Kurt) konnte dank der Unterstützung des entfernten Verwandten Louis Joseph, der bereits 1893 in die USA auswanderte, Deutschland verlassen. Den Eltern, Hugo und Rosi Freund, blieb keine andere Wahl. Sie liebten ihre Heimat Nürnberg und glaubten nicht, dass Hitler lange an der Macht bleiben würde. Sie wurden bitter enttäuscht, und nach der Verhaftung Hugo Freunds war eine schnellstmögliche Flucht ins Ausland der einzige sichere Weg, zu überleben. Ihr Weg führte sie 1937 nach New York, wo sie anfangs im Viertel Washington Heights lebten und allmählich Fuß fassten.
Die Familie zusammenführen
Nancy Freund-Heller begann ihre Familienforschung, weil sie mehr über die Herkunft ihrer Eltern wissen wollte. Fotobücher zeigten Vorfahren, die sie nie kennengelernt hatte. Entweder waren sie, wie ihre eigene Familie, aus Deutschland geflüchtet und lebten an irgendeinem entfernten Ort der Erde.
Oder sie waren, wie die meisten Angehörigen, verhaftet, deportiert und ermordet worden. Um mehr über sie zu erfahren, hat Nancy mit Unterstützung ihrer gesamten Familie und vieler Menschen in Deutschland, z.B. auch die ErinnerungsWerkstatt, nach ihren Vorfahren geforscht, hat ihre einstmaligen Wohnorte aufgesucht und ihre Lebensgeschichten und Schicksale recherchiert. Ihren Familienstammbaum konnte sie bisher auf etwa 700 Angehörige ergänzen.
Erinnern in Deutschland
Bereits im vergangenen Jahr unternahm sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Jeffrey Heller eine zweiwöchige Reise durch die frühere Heimat ihrer Eltern und begab sich auf die meist schmerzvolle Suche nach ihren Wurzeln. Und es reifte der Plan, ihren ermordeten Angehörigen ein würdiges Andenken zu setzen.
In diesem Jahr kehrte sie zurück, um die Übergabe der Erinnerungszeichen für sieben Mitglieder der Familie Sänger zu begleiten. Dabei handelte es sich um die Tochter ihrer Großtante Karoline Lehmann - eine Schwester Hugo Freunds - Irene Sänger und deren Angehörigen. Irenes Tochter Anneliese, die jüngste der Familie, war zum Zeitpunkt der Deportation gerade neun Jahre alt.
Die Familie Sänger/ Erinnerungszeichen in München
Fritz Sänger kam am 12. September 1891 in Augsburg zur Welt. Neben seinem Bruder Stephan Franz Sänger war er Teilhaber der Fa. J. Kleofaas & Knapp in Augsburg.
Berta Sänger wurde am 26. Juni 1890 geboren. Über ihr Leben ist nur wenig bekannt. Sie erlernte keinen Beruf und war unverheiratet.
Am 27. Juni 1933 kam ihre Tochter Anneliese Sänger in Augsburg zur Welt. Sie musste erleben, wie ihr Vater im Zuge der „Kristallnacht“ in das KZ Dachau verschleppt wurde. Dort zwang ihn die SS, das Unternehmen zu verkaufen. Am 15. Dezember 1939 wurde er aus dem Lager entlassen.
Im September 1939 zog die Familie nach München und lebte in der Maria-Einsiedel-Straße 4. Auch Berta Sänger übersiedelte dorthin.
Am 4. April 1942 deportierte die Gestapo sie alle in das Ghetto Piaski und von dort in das Lager Sawin. Wann und wo Berta, Irene, Anneliese und Fritz Sänger umkamen, ist nicht bekannt.
1932 heiratete er Irene Sänger geb. Lehmann. Sie wurde am 26. April 1904 in Nürnberg geboren.
Übergabe der Erinnerungszeichen für Berta, Fritz, Irene und Anneliese Sänger in der
Maria-Einsiedel-Straße 4
Alfred Sänger kam am 3. September 1894 in Augsburg zur Welt. Er arbeitete als Leiter der Münchner Niederlassung der Firma Kleofass & Knapp. und lebte von 1936 bis zur „Kristallnacht“ am 9. November 1938 in der Prinzregentenstraße 8.
Seit Ende 1939 lebte er bei seinem Bruder Fritz in der Maria-Einsiedel-Straße 4.
Am 20. November deportierte die Gestapo Alfred Sänger nach Kaunas, wo SS-Männer ihn am 25. November 1941 erschossen.
Seine Biografie finden Sie hier auf den Seiten der Erinnerungswerkstatt.
Übergabe des Erinnerungszeichens für Alfred Sänger, Franz-Josef-Strauß-Ring 4
Übergabe des Erinnerungszeichens für Stephan Franz Sänger in der Tengstraße 32
Selma Sänger lebte seit 1934 mit ihrer verwitweten Mutter in München in der Haimhauser Straße 18 (heute 2).
Diese schrieb später, dass Selma und Stephan Franz Sänger freiwillig am 22. Juli 1942 mit ihr in das Ghetto Theresienstadt gegangen seien. Stephan Franz Sänger deportierte die SS am 1. Oktober 1944 nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.
Selma Sänger wurde am 6. Oktober 1944 ebenfalls nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Stephan Franz Sänger wurde am 2. April 1897 in Augsburg geboren. Auch er arbeitete in der Firma Kleofass & Knapp.
1935 zog Stephan-Franz Sänger in die Tengstraße 32, diese Wohnung musste er 1938 verlassen.
1939 heiratete er die am 4. Oktober 1906 in Augsburg geborene Selma geb. Rosenfelder.
Übergabe des Erinnerungszeichens für Selma Sänger in der Haimhauserstraße 2
Persönlicher Austausch wichtig
Eine Mission von Nancy Freund-Heller ist inzwischen die Vermittlung historischer Fakten und ihrer Familiengeschichte. Anhand der leidvollen Erfahrungen ihrer deutschen Vorfahren macht sie deutlich, wie wichtig Aufklärung über den Holocaust ist. Durch ihre Kontakte entschied sie sich dazu, Vorträge in Schulen zu halten und mit jungen Deutschen in einen Austausch zu kommen. Ihr Vater William unterstützt sie aus Überzeugung und beteiligt sich über Zoom an den Unterrichtsveranstaltungen. Dieser Austausch bewirkt eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal jüdischer Mitmenschen. Viele Jugendliche sind tief bewegt und sehen ihre Umgebung in einem anderen Licht. Ein Schüler aus Alsfeld stellte nach dem Vortrag fest, dass er im ehemaligen Haus der Großeltern Nancys wohnt. Eine Erfahrung, die wohl unter die Haut geht. Der wichtigste Appell an uns Deutsche ist gelebte Vielfalt und Toleranz. Wieviel ihr an ihrer Botschaft liegt, zeigt ihre Initiative „Freundschaftsbrigde“, ein sehr persönlicher und detailreicher Blog über ihre Reisen durch Deutschland und ihre Erinnerungsarbeit.
Erfahrungen für die Zukunft
Was die Familien Steinberger und Freund nach ihrer Flucht erlebten, ist exemplarisch für viele entwurzelten Menschen in der Fremde. Die Großeltern behielten die deutsche Sprache und vor allem die deutsche Kultur bei. Nancy Freund-Heller erinnert sich, dass die Verständigung mit ihnen fast unmöglich war, und als ihre Mutter im Alter immer häufiger deutsch sprach, entschied sie sich, die Sprache ihrer Vorfahren zu lernen. Wenn in früheren Jahren Mitschüler zu Besuch kamen, hatten diese den Eindruck, in einem anderen Land zu sein: Die Freunds lebten in ihrer deutschen Tradition weiter und pflegten alte Gewohnheiten, die in den USA völlig fremd waren.
Es ist wohl Nancy Freunds größter Verdienst, aus dem traumatischen Verlust, den ihre Eltern und Großeltern erlebten, eine solche zuversichtliche und heilsame Energie entstehen zu lassen und Brücken zu bauen.
Weiterführende Informationen:
Germany: Roots & Remembrance - Ein Blog von Nancy Freund-Heller und Jeffrey Heller
A Trip down Ancestry Lane
https://nancysgermanyroots.com/home/
Paula‘s Nürnberger Lebkuchen – Made in USA (Medienwerkstatt Franken e.V)
Ende der dreißiger Jahre eröffneten Paula und Hugo Freund in Manhattan ihre Spezialbäckerei für Original Nürnberger Lebkuchen. Über 10 Jahre war Paula‘s Lebkuchen die erste Adresse für die Nürnberger Köstlichkeit in der neuen Welt.
https://www.medienwerkstatt-franken.de/video/paulas-nuernberger-lebkuchen-made-in-usa/
Autorin: Edel Konischek