Rosa Zippora Sigall

S-Z
 

Foto: Familienbesitz

 

Geboren am 2. Oktober 1924 in Bretten
Gestorben am 22. September 1941 in München

 

Galizische Wurzeln

Rosa Sigalls Großeltern Alfred und Sara Rachel Tiefenbrunner wanderten etwa um 1900 aus der ehemals österreichischen Stadt Klasno – seit 1919 Klasnow/Polen – nach Deutschland ein. Alfred Tiefenbrunner war Händler und viel gereist, wie sich an den Geburtsorten seiner Kinder ablesen lässt: Karl und Ester Erna, Rosas Mutter, wurden noch im österreichischen Kalwarya geboren (heute Kalwaria Zebrzydowska/Polen), Jeanette in Saarbrücken, Leo in Straßburg, Hermann und Willi in Karlsruhe. Zehn Jahre vor Rosas Geburt eröffnete ihr Großvater ein Manufakturgeschäft in der damals etwa 5.000 Einwohner zählenden Kleinstadt Bretten. Fünf Jahre lebte die Familie Tiefenbrunner in Bretten, dann nutzte sie 1919 die Möglichkeit, die badische und damit deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben.

Auch Rosas Großvater väterlicherseits, der Händler Abraham Moses Sigall, stammte aus Galizien. Vermutlich übersiedelte er Anfang der 1890er Jahre von seinem Geburtsort Brody nach Leipzig. 1893 heiratete er dort die Leipzigerin Itte Rifka Goldenzweig. Von ihren sechs Kindern überlebten nur drei das Kindesalter: Lewi, Rosas Vater, sowie Hermann Nathan und David. Der 1895 erstgeborene Sohn Isaac Josef lebte nur sechs Monate, Samuel lediglich acht Wochen. Julius starb im Alter von vier Jahren.


Rosa Sigalls Eltern

Wie es in verschiedenen Dokumenten und Gedenkbüchern zu unterschiedlichen Geburtsdaten und einem falschen Hochzeitsdatum von Ester Tiefenbrunner kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Erst die Heiratsurkunde aus dem Standesamt Dresden schaffte Klarheit: Ester Tiefenbrunner kam am 23. Januar 1898 zur Welt und heiratete am 8. Januar 1923 in Leipzig den Handlungsreisenden Lewi Sigall heiratete. Mit der Eheschließung verlor Ester Erna Tiefenbrunner die vier Jahre zuvor erworbene deutsche Staatsbürgerschaft. Denn obwohl die Familie Sigall seit mehr als dreißig Jahren in Leipzig lebte, besaß sie nach wie vor die polnische Staatsangehörigkeit – auch der am 11. Dezember 1896 dort geborene Lewi.

Lewi und Ester Sigall wohnten in der Pforzheimer Straße 20, wo sich auch das Manufakturgeschäft Alfred Tiefenbrunners befand. Ester Sigall brachte zwei Kinder zur Welt: Am 2. Oktober 1924 wurde Rosa Zippora geboren. Bei ihrer erstgeborenen Tochter folgten Lewi und Ester den Traditionen der jüdischen Religion und gaben ihr neben „Rosa" den biblischen Namen „Zippora“ – den Namen der Frau des Propheten Moses. Bei der Geburt von Edith Mia am 3. Januar 1926 war die Namensgebung freier: Der altenglische Name „Edith“ zählte in den 1920er Jahren zu den beliebtesten Vornamen.


Kindheit in Karlsruhe

Der erste Wohnort in Karlsruhe dürfte die Waldhornstraße 21 gewesen sein. Wegen fehlender Aufzeichnungen lässt sich nicht feststellen, wann die Familie in die Blumenstraße 7 und danach in die Brunnenstraße 2 umzog. Auch wenn angenommen werden kann, dass der Verdienst eines Handelsreisenden nicht besonders hoch war, führte die Familie vermutlich ein bürgerliches Leben, zumal Rosas Mutter zum Lebensunterhalt beitragen konnte. Sie war Schneiderin und nähte sicher nicht nur die adretten Kleider ihrer Mädchen, sondern schneiderte auch die Kleidung für andere Frauen.


Die Nationalsozialisten übernehmen die Macht

Bereits am 13. März 1933, wenige Tage nach der Reichstagswahl, kam es in Karlsruhe zu antisemitischen Ausschreitungen. In der Kaiserstraße zwangen Radauschläger — etliche davon uniformiert — jüdische Geschäfte mit wüsten Randalen zum Schließen. Wenn auch viele Karlsruher Bürger am 1. April 1933 den reichsweiten Boykott von Geschäften ignorierten und trotz der „Kauft nicht bei Juden“-Schilder an den SA-Männern vorbei die Läden betraten, registrierten die jüdischen Bürger das Vorgehen der neuen Machthaber als ernst zu nehmende Drohung.

Das Mitte Juli erlassene „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der Deutschen Staatsangehörigkeit“ traf die Familie Rosa Sigalls unmittelbar. Das Bezirksamt Bretten forderte am 26. August 1933 den dortigen Bürgermeister auf, sich über die „Verhältnisse“ der Familie zu erkundigen. Namentlich erwähnte das Amt ihren Großvater Alfred, ihren Onkel Karl und ihre Mutter Ester. „Insbesondere“ sollte wegen „etwaige[r] politische[r] Betätigung“ ermittelt und „Leumundszeugnisse“ beigebracht werden. Schon in der darauffolgenden Woche meldete der Gemeinderat, Mitglieder der Familie Tiefenbrunner hätten sich „außerordentlich stark gegen die jetzige Regierung betätigt“. In der Antwort an das Bezirksamt griff der Bürgermeister weit in die Geschichte zurück: „Insbesondere sind sie bei Kundgebungen anlässlich des Rathenau-Mordes in den vordersten Reihen zu finden gewesen.“ Als im Juni 1922 Rechtsradikale den jüdischen Außenminister Walter Rathenau erschossen, war es landesweit zu Protesten gekommen. Dies als Beweis für politische Aktivitäten zu werten ist ebenso entlarvend wie die Anmerkung, Alfred Tiefenbrunner habe „Konkurs gemacht“ und „eine Anzahl von Geschäftsleuten geschädigt“. Die Anfrage des Bezirksamtes in Bretten ist auch insofern interessant, als die angesprochenen Familienmitglieder schon länger nicht mehr in Bretten lebten. Rosas Großvater hatte im September 1929 in Karlsruhe einen Textilwarenhandel eröffnet hatte und wohnte seitdem in der Kronenstraße 27.

Die Fotografie entstand bei einem Familientreffen gegen Ende 1933. Von rechts beginnend sind zu sehen: Rosa, Edith und ihre Mutter Ester Sigall sowie ihre Großeltern Alfred und Sara Tiefenbrunner. Daneben sitzt ihre Tante Jeanette mit den Cousins Alfred und Ruth. Dahinter stehen ihr Onkel Willi Tiefenbrunner und Jeanettes Ehemann Leo Scharf.

 Foto: Familienbesitz


Schuljahre im NS

Rosas erster Schultag – in der Weimarer Republik begann ein neues Schuljahr nach den Osterferien – war der 1. Mai 1930. Weder von ihr noch von ihrer Schwester Edith existieren Erzählungen aus ihrer Schulzeit. Doch es gibt Berichte aus Karlsruhe, die ein Bild aus dieser Zeit vermitteln.

Bis 1933 hatten jüdische Schülerinnen und Schüler in Karlsruhe keine Schwierigkeiten wegen ihrer Religionszugehörigkeit, dies änderte sich mit der Machtübernahme. Das Badische Kultus- und Unterrichtsministerium reagierte schnell, als Berichte eingingen, dass „jüdische Schulkinder von ihren Mitschülern wegen ihres Judentums in und außerhalb der Schule beschimpft und sogar geschlagen werden“. Am 31. März instruierte die Behörde zwar alle Schulleiter und Lehrer, auf die „Schulkinder […] in geeigneter Weise einzuwirken und zum Schutz der jüdischen Schüler mit Nachdruck, erforderlichenfalls mit Schulstrafen einzuschreiten“, doch inwieweit dies erfolgreich umgesetzt werden konnte, ist fraglich. Nur zwei Monate später traf im Juni 1933 eine weniger judenfreundliche Anordnung ein: Hatte man bisher aus Rücksicht auf den Sabbat den Samstag auf das Schreiben von Klassenarbeiten oder anderen manuellen Tätigkeiten freigehalten, war es damit nun zu Ende. Für Rosa Sigall bedeutete dies, dass sie entweder das Sabbatgebot verstoßen musste oder samstags nicht zur Schule gehen konnte. Allerdings: „Für die Versäumnisse übernimmt die Schule keine Verantwortung“. Weitere Einschränkungen folgten: Ab September 1934 erhielten jüdische Schüler keine Schulgeldermäßigungen mehr, ab August 1935 durften Schulpreise nicht mehr an „Nichtarier“ vergeben werden.

Die Isolierung setzte sich zunehmend auch in den Schulen selbst fort. Ein Lehrer änderte zum Beispiel mitten im Schuljahr die Sitzordnung mit der demütigenden Formulierung: „Du hast es nicht nötig, neben einer Jüdin zu sitzen!“ In den Pausen durften jüdische Schüler und Schülerinnen nicht mehr mit den anderen spielen, sondern mussten sich in einer Ecke des Schulhofs aufhalten.

Als im September 1935 die Nationalsozialisten in Nürnberg die sogenannten Rassengesetze erließen, ordnete der Reichserziehungsminister Erhebungen über die Rassezugehörigkeit in den Schulen an. Daraufhin richtete Karlsruhe 1936 eine Jüdische Schule ein. Mit Genehmigung des Badischen Ministeriums für Kultus und Unterricht stellte im Juli 1937 die Schillerschule zwei Räume für eine Fortbildungsschule für Mädchen zur Verfügung. Bildung ist in jüdischen Familien ein hohes Gut. Es ist also durchaus möglich, dass Rosa und Edith diese Schule besuchten, Belege dafür gibt es nicht.

Auf dem Schulbild der 7. Klasse aus dem Jahr 1937 sitzt Rosa in einem Kleid mit Puffärmeln in der zweiten Reihe als erste von rechts.

 Foto: Familienbesitz


Von der Zwangsausweisung zum Pogrom

Anfang Oktober 1938 erklärte die polnische Regierung die Pässe ihrer Bürger, die mehr als fünf Jahre nicht mehr in Polen gelebt hatten, für ungültig. Die Nationalsozialisten reagierten darauf mit der Zwangsausweisung aller jüdischen polnischen Männer. Am 28. Oktober um 12 Uhr sollten sich die betroffenen Karlsruher Juden am Güterbahnhof einfinden. Doch Polen nahm seine Staatsbürger nicht wieder auf und Deutschland nahm sie nicht zurück – die Menschen steckten zwischen Deutschland und Polen im „Niemandsland“ fest. Aus Verzweiflung über die Situation seiner davon betroffenen Eltern erschoss der junge Pole Herschel Grünspan in Paris den Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Den Nationalsozialisten bot sich damit ein willkommener Anlass für ein gewalttätiges Pogrom. In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden reichsweit jüdische Geschäfte und Einrichtungen zerstört, Synagogen in Brand gesetzt, Juden beraubt und misshandelt, einige auch ermordet.

Eigentlich hätte auch Rosas Vater Lewi Sigall zu der Gruppe gehört, die mit der „Polenaktion“ ausgewiesen werden sollten. Es ist weder zu klären, warum er nicht dabei war, noch, warum ihn die Gestapo während des Pogroms nicht verhaftete und in ein Konzentrationslager verschleppte. Rosas Großvater Alfred Tiefenbrunner hingegen wurde am 10. November 1938 überfallen und so schwer misshandelt, dass er daraufhin arbeitsunfähig war. Dieser gewalttätige Vorfall muss für die 14-jährige Rosa und ihre 12-jährige Schwester Edith ein Schock gewesen sein. 


Auf schwankendem Boden

In den folgenden Jahren erlebte Rosa Sigall eine Zeit der absoluten Unsicherheit. Auch wenn die Gestapo in der „Kristallnacht“ ihres Vaters nicht habhaft werden konnte, vergessen hatte sie ihn nicht. In den folgenden Wochen schikanierte und drangsalierte sie die Familie, um sie auf diese Weise zur „freiwilligen“ Ausreise zu zwingen. Doch die Sigalls blieben, wie die Volkszählung am 17. Mai 1939 beweist, bei der Lewi Sigall den Vordruck handschriftlich ausfüllte.

Am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsbeginn, wies die Gestapo Berlin den Karlsruher Polizeipräsidenten an, das Aufenthaltsverbot für polnische Juden nun zu vollziehen. Unter den sechzehn namentlich aufgeführten Menschen befanden sich auch Rosa Sigalls Eltern: Lewi Sigall sollte ins Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert werden, Ester ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Doch offenbar entzog sich Lewi Sigall erneut dem Zugriff der Gestapo. Weder das Konzentrationslager Buchenwald, noch Dachau oder Ravensbrück registrierten ihn als Häftling. Bis zum November 1939 fehlt von ihm jede Spur.

Auch Ester Sigall verschwand mit ihren Töchtern unbemerkt aus Karlsruhe. Als das Polizeipräsidium am 7. September 1939 Rosas Mutter schriftlich aufforderte, sich sofort auf dem Geschäftszimmer 3b zu melden, kam die Karte mit der Ladung als unzustellbar zurück. Am 11. September gingen Beamte der Kriminalpolizei auf die Suche. In der Brunnenstraße 2 war Ester Sigall nicht anzutreffen; sie habe hier „seit zwei Jahren nicht mehr gewohnt“, notierte der Beamte, der neue Wohnort könne nicht festgestellt werden. Sein Kollege hatte am selben Tag etwas mehr Glück: In der Herrenstraße 22 erhielt er die Auskunft, Ester Sigall habe mit ihren Kindern bis 4. September 1939 dort gewohnt, danach sei sie nach Darmstadt verzogen. Beide Beamte vermerkten, sie habe über kein Vermögen verfügt.

Dass Ester Sigall mit Rosa und Edith versuchte, in Darmstadt bei ihrem Schwager Hermann Sigall und dessen Frau Nathalie Hilfe zu finden, klingt durchaus plausibel. An wen sollte sie sich sonst wenden? Ihre Herkunftsfamilie Tiefenbrunner hatte sich in den vorangegangenen Jahren aufgelöst: Ihr Bruder Leo lebte schon seit Längerem in den USA. 1936 war Karl nach Palästina ausgewandert, Jeanette 1937 und Willi 1938 in die USA emigriert. Hermann hatte am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und war nach Frankreich geflohen. Als letzte waren Anfang August 1939 ihre Eltern in die USA emigriert.

Hermann Sigall lebte seit 1922 in Darmstadt, wo er bis zum Pogrom das Pelzmodengeschäft Gottlieb Lorz leitete. Am 10. November 1938 verschleppte ihn die Gestapo ins Konzentrationslager Buchenwald, am 10. Dezember entließ sie ihn wieder. Ester Sigall dürfte das gewusst haben. Vermutlich wusste sie aber nicht, dass ihr Schwager mit seiner Familie in ein „Judenhaus“ hatte ziehen müssen. In diesem Haus dürfte für drei weitere Menschen kaum Platz gewesen sein. Angemeldet waren sie Darmstadt jedenfalls nicht.

Ob und wie lange Ester, Rosa und Edith Sigall sich in Darmstadt aufhielten, lässt sich nicht feststellen. Vermutlich kehrten sie nach Karlsruhe zurück – auch wenn wegen der im Krieg nahezu vollständigen Vernichtung der Karlsruher Einwohnermeldekartei ein Nachweis dafür fehlt. Unbekannt bleibt deshalb auch, ob Rosas Vater Lewi Sigall wieder bei ihnen war.


Verhaftung des Vaters

Am 3. November 1939 wurde Lewi Sigall verhaftet und in „Schutzhaft“ genommen und im Gefängnis III in Karlsruhe, der ehemaligen Artilleriekaserne Schloss Gottesau, inhaftiert. Bei der im Gefangenenbuch verzeichneten Anmerkung „Spionagehaft“ handelt es sich vermutlich lediglich um eine Begründung für die Festnahme, da Lewi Sigall gesucht wurde und man ihn abschieben wollte. Anfang Februar 1940 erging die Anordnung, ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen zu überstellen. Am 22. Februar 1940 ist er dort als Eingang registriert.


In Regensburg

Als Ester Sigall sich am 15. April 1940 mit Rosa und Edith in Regensburg anmeldete, legte sie eine Abmeldebescheinigung aus Karlsruhe vom 12. April vor. Darauf war als „zukünftigen Wohnort“ die „Rote-Hahnen-Gasse 7 in Regensburg“, ein sogenanntes Judenhaus, vermerkt. Was sie bewog, nach Regensburg zu gehen und wie es zu dieser genauen Adressenangabe kam, lässt sich nicht mehr klären. Obwohl sich Rosas Vater im Konzentrationslager befand, sind im Regensburger Familienbogen auch seine Daten eingetragen. Die Familie wurde jedoch nicht in der Rote-Hahnen-Gasse, sondern im 2. Stock am Haidplatz 4 untergebracht. Dieses Haus war kein „Judenhaus“. Vermutlich lebten sie von der Unterstützung durch die jüdische Gemeinde.

Knapp fünf Monate nach der Ankunft der Familie in Regensburg, am 2. September 1940, überführte die Gestapo Rosa Sigalls Vater in das Konzentrationslager Dachau. Die Strapazen des Lagers überstand der erst 44-Jährige nur sechs Monate lang. Am 24. März 1941, kurz vor Mitternacht, starb Lewi Sigall angeblich „an Versagen von Herz und Kreislauf“ - so steht es zumindest auf dem Totenschein. Er wurde im lagereigenen Krematorium verbrannt. Ob und wann seine Familie informiert wurde, ist unbekannt.


Im Antonienheim in München

Vermutlich erfuhr Rosa Sigall über die jüdische Gemeinde von dem Heim der Israelitischen Jugendhilfe in der Münchner Antonienstraße, das jungen Frauen eine Ausbildungsmöglichkeit in Hauswirtschaft und Kinderpflege bot. Vielleicht sah sie darin eine Möglichkeit, nach dem Lehrgang zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. 

Am 24. Februar 1941 traf sie in der kurz „Antonienheim“ genannten Einrichtung ein. Während der Ausbildung konnte sie dort auch wohnen. Hier lernte sie die knapp 15-jährige Margot Steinkritzer kennen, die sechs Monate vor ihr mit der Ausbildung begonnen hatte. Auch sie war allein nach München gekommen – ihre Eltern lebten im unterfränkischen Hammelburg – und beide Mädchen freundeten sich an.


Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof

Fünf Monate später teilte die „Arisierungsstelle“ Rosa Sigall und Margot Steinkritzer zur Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof ein, einem jüdischen Zwangsarbeitslager, in dem seit Sommeranfang vorwiegend Frauen arbeiten mussten. Die Arbeit war körperlich schwer, weshalb die Zwangsarbeiterinnen möglichst jung sein sollten. Mit einer großen Gruppe 15- bis 22-Jähriger fuhr Rosa Sigall am 6. August 1941 von München nach Lohhof.

Während die meisten Zwangsarbeiterinnen täglich mit dem Zug von München in das knapp 20 Kilometer entfernte Lohhof und wieder zurückfahren mussten, waren 52 junge Frauen in einer noch unfertigen Baracke untergebracht. Zuständig für die Frauen war die Zwangsarbeiterin Elisabeth Heims. Um die Baracke etwas freundlicher zu gestalten hatte sie Blumenkästen aufstellen und Vorhänge anbringen lassen. Trotzdem dürfte der Eindruck niederschmetternd gewesen sein. Die Baracke war in fünf Stuben unterteilt, auf die Elisabeth Heims die Frauen verteilte: Drei Stuben zu je zwölf Frauen, zwei zu acht Frauen. Auf Freundschaften nahm sie Rücksicht, so dass Rosa Sigall und Margot Steinkritzer sicher gemeinsam in einer der Stuben schlafen durften.

Der Arbeitsablauf in dem Lager war auf Anordnung der „Arisierungsstelle“ streng geregelt: In jeder Stube gab es eine Stubenälteste und einen wöchentlich wechselnden Stubendienst. Ein strenger Zeitplan war exakt einzuhalten: „5 Uhr 30 wecken, 5 Uhr 35 – 5 Uhr 50 Frühsport, 5 Uhr 50 – 6 Uhr 10 waschen“. Zwanzig Minuten reichten für 52 Frauen nicht zum Waschen. Deshalb musste jede Woche gewechselt werden: Eine Gruppe durfte den Waschraum benutzen, die andere musste dazu Waschschüsseln in den Stuben aufstellen. Um 6:30 gab es „Kaffee fassen“, um 6:45 Uhr war der Appell und zehn Minuten später hieß es „Abmarsch zum Dienst“. Ebenso streng ging es im Tagesverlauf weiter: 7 bis 12 Uhr Dienst, 12 bis 12:45 Uhr Mittagspause, 12:45 bis 17 Uhr Dienst“. Wenigstens nach der Arbeit hatten die Frauen etwas Zeit, um sich richtig zu waschen, und zwar eine ganze Stunde von 17 bis 18 Uhr.

Das Lager stand unter ständiger Beobachtung der „Arisierungsstelle“. Bald waren Überstunden und Schichtarbeit an der Tagesordnung. Problematisch war die mangelhafte Arbeitskleidung, selbst an einfachen Strohschuhen fehlte es. Auch der raue Ton in dem Zwangsarbeitslager machte den jungen Frauen sehr zu schaffen, Anfang September klagten vor allem die jüngsten „über Liebesentzug“.


Diagnose Kinderlähmung

An manchen Sonntagen konnte man „Urlaub“ nehmen und die Familie besuchen. Rosa Sigall fuhr vermutlich am 7. September 1941, vier Wochen nach Beginn der Zwangsarbeit, zu ihrer Familie nach Regensburg. Nach ihrer Rückkehr ging es ihr von Tag zu Tag schlechter. Bald bestätigte sich der Verdacht einer schweren Krankheit und schon in der darauffolgenden Woche brachte man sie ins Israelitische Krankenhaus nach München.

Am 15. September 1941 meldete der Arzt Dr. Julius Spanier telefonisch aus dem Krankenhaus, bei Rosa Sigall liege mit „95 %iger Wahrscheinlichkeit Kinderlähmung vor“. Diese vorläufige Diagnose meldete er pflichtgemäß der Abteilung Ansteckende Krankheiten im Städtischen Gesundheitsamt München-Land. Daraufhin inspizierte der Bezirksarzt die Stuben und befand, dass „die Mädchen auf engem Raum zusammenhocken“. Er ließ Rosas Stube sowie den Waschraum mit Kerosol desinfizieren, ihre Kleidung und die Bettwäsche nahm er mit. Zu einem weiteren Poliofall kam es in der Flachsröste nicht.

Am 16. September stieg ihr Fieber auf 40,5 Grad. Das Krankenhaus diagnostizierte nun eine „spinale Kinderlähmung“. Am 21. September bestätigte das Bakteriologische Institut, dass es sich um „Kinderlähmung unter Einbeziehung des Gehirns“ handelte – eine tödliche Krankheit.

Rosa Zippora Sigall starb am 22. September 1941, einem Montag, an den Folgen einer Hirnhautentzündung (Meningitis) – zehn Tage vor ihrem 17. Geburtstag. Dem jüdischen Ritus entsprechend musste sie innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden. Ihre Mutter und ihre Schwester hatten keine Gelegenheit, sich von Rosa zu verabschieden.

Vermutlich mit Hartnäckigkeit und Tränen schaffte es die 15-jährige Margot Steinkritzer, als einzige aus dem Zwangsarbeitslager an der Beisetzung am 23. September 1941 dabei zu sein zu dürfen.

Zwei Wochen nach Rosa Sigalls Tod verfasste Rolf Grabower einen Nachruf:

“Am 22.9.1941 ist Rosel Sara Sigall von uns gegangen. Sie war eine unserer Besten. Wir alle hatten sie in unser Herz geschlossen, wie sie mit ihren 16 Jahren unermüdlich und treu ihre Pflicht tat, wie sie stets kameradschaftlich und freundlich mit uns zusammenlebte. Wir werden sie nie vergessen.”

 

Rosa Zippora Sigalls Grab befindet sich auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in München, Sektion 7, Reihe 10, Grab 9. Wer ihren Grabstein in Auftrag gab, ist unbekannt. 

Der Grabstein wurde im April 2022 mit Unterstützung der ErinnerungsWerkstatt München gereinigt, die schlecht lesbare Inschrift nachgezogen.

(Foto: Familienbesitz)


Schicksal der Angehörigen Rosa Sigalls

Ihre Mutter Ester Sigall fand am 11. November 1941 Arbeit bei der Sortieranstalt für Textil-Rohstoffe Willy Schönfeld in Regensburg. Am 2. April 1942 wurde sie gemeinsam mit ihrer Tochter Edith nach Piaski verschleppt. Dort verlieren sich ihre Spuren.

Am Haidplatz 4 in Regensburg erinnern seit 2012 Stolpersteine an Ester Erna und Edith Mia sowie seit Mai 2022 auch an Rosa Zippora Sigall.

Rosa Sigalls Großvater Alfred Tiefenbrunner war nach der Nachricht vom Tod seiner Tochter Ester und den Enkelkindern Rosa und Edith in fortwährender ärztlicher Behandlung. Im Alter von 90 Jahren starb er am 15. November 1960 in Chicago. Dort starb am 31. August 1945 auch ihre 74-jährige Großmutter Sara Rachel.

Ihr Onkel Karl Tiefenbrunner, der 1936 mit seiner Familie nach Palästina ausgewandert war, trat nach Kriegsbeginn der britischen Armee bei. Mehrere Jahre bis Kriegsende war er als Kriegsgefangener in Hohenfels in Bayern interniert. Er starb am 11. Oktober 1971 in Israel.

Ihre Tante Jeanette Scharf-Tiefenbrunner, ihre Onkel Willi und Leo Tiefenbrunner ließen sich mit ihren Familien in den USA nieder. Hermann Tiefenbrunner verbrachte den Krieg im besetzten Frankreich und wanderte 1948 in die USA aus.

Rosas Großvater Abraham Moses Sigall starb am 18. Juni 1915 im Alter von 48 Jahren in Leipzig. Der Todestag ihrer Großmutter Itte Rifka ist unbekannt.

Ihr Onkel Hermann Sigall wurde am 29. Februar 1940 verhaftet, zunächst im Konzentrationslager Ravensbrück interniert und am 23. September ins Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt. Dort kam am 24. November 1941 ums Leben. Seine Frau Nathalie wurde Ende März 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet. Ihren 12-jährigen Sohn Alexander übergab Nathalie Sigall bei ihrer Verhaftung jüdischen Nachbarn. Bald darauf übernahm ihn eine Familie in Zagreb in Jugoslawien. Von dort konnte er mit der Jugendalijah in ein jüdisches Heim nach Palästina ausreisen. Er lebt mit seiner Familie in Israel.

Ihr Onkel David Sigall verlegte seinen Wohnsitz vermutlich 1936 nach Frankfurt am Main. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

Margot Steinkritzer

wurde am 4. April 1942 nach Piaski deportiert und ermordet.


Text und Recherche

∙ Ingrid Reuther

Quellen

∙ Archiv der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.

∙ Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau, Häftlingszugangsbuch.

∙ Archiv der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück.

∙ Archiv der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Häftlingskartei.

∙ Arolsen Archives, u.a. Totenschein, Deportationslisten.

∙ Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 61047.

∙ Bundesarchiv, Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden 1933-1945.

∙ Darmstädter Geschichtswerkstatt, Biografie Hermann und Nathalie Sigall.

. Generallandesarchiv Karlsruhe.

∙ Historisches Lexikon Bayerns, Schulwesen in der Weimarer Republik.

∙ Nachlass Rolf Grabower, Tagesberichte Flachsröste Lohhof.

. Staatsarchiv Leipzig.

. Stadtarchiv Leipzig,

∙ Stadtarchiv Bretten, Meldedaten.

∙ Stadtarchiv Darmstadt, Meldedaten.

∙ Stadtarchiv Karlsruhe, Personendaten, Entschädigungsakte 480 Nr. 28650.

∙ Stadtarchiv München, Biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden 1933-1945.

∙ Stadtarchiv Regensburg, Familienbogen.

. Standesamt Leipzig.

∙ Stolpersteininitiative Regensburg.

∙ Yad Vashem, Gedenkblatt Ester Sigall.

∙ Mailverkehr mit Heidemarie Leins, Familienforschung der Brettener Juden.

∙ Mailverkehr mit Zachy Beeri, Großcousin von Rosa Sigall.

Literatur

∙ Strnad, Maximilien: Flachs für das Reich - Das jüdische Arbeitslager „Flachsröste Lohhof“ bei München,

München, 2013, S. 55 ff.

∙ Wemer Josef, Hakenkreuz und Judenstern, Karlsruhe 1988, S. 102 ff.

 
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Irene Sänger, geb. Lehmann

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Amalie Spitzauer